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Aus alt mach zeitgemäss

Biel «Babes in Toyland» heisst die jüngste musikalische Bühnenproduktion des Schweizer Opernstudios. Sie hat mit der originalen Operette aus dem Jahr 1903 nur wenig gemeinsam.

Annelise Alder

Wie eine «Eisdünenlandschaft» erscheint der grosse Saal im Volkshaus. Weisse Plastikbahnen bedecken herumliegende Möbel und Gegenstände. Sie hängen auch von der Empore herunter wie überdimensionierte Eiszapfen. Die von der Decke herunterbaumelnden Kabel und Leitungsteile lassen nichts Gutes erahnen. «Die Szene hat auch etwas Dystopisches», sagt die Bühnen- und Kostümbildnerin Lena Weikhard. Die verzaubernde Märchenlandschaft, die in der Operette «Babes in Toyland» von Victor Herbert heraufbeschworen wird, hat die junge Bühnenbildnerin in eine Art Niemandsland verkehrt. Von heiterer Operettenwelt also keine Spur.

Nicht verbieten, aber in neuen Kontext stellen

«Ich habe mich schon gefragt, ob es zeitgemäss ist, eine Operette einzustudieren», sagt Mathias Behrends, Studiengangleiter Schweizer Opernstudio der Hochschule der Künste Bern HKB mit Sitz in Biel. Dem Genre hänge nämlich immer noch 
der Ruch an, ausschliesslich «champagnerselig» zu sein und «unausgesetzt Fröhlichkeit einzuschenken, manchmal über jeden musikalischen Durst hinaus».

Dennoch wagte er sich an die Gattung – und dies zum ersten Mal in der Geschichte des Schweizer Opernstudios. Zur Unterstützung seines Vorhabens engagierte er einen Meister dieses Fachs: Den österreichischen Musiktheaterregisseur Olivier Tambosi. Dem Bieler Publikum ist er durch die mitreissende Inszenierung des Musicals «Sweeney Todd» am Theater Orchester Biel Solothurn (Tobs) bekannt.

Tambosi wählte für das Operettenexperiment des Opernstudios nicht eine Collage aus verschiedenen Operetten aus, wie es Mathias Behrends ursprünglich vorschwebte, sondern ein einziges Werk, nämlich «Babes in Toyland». Das Publikum wird allerdings nicht die originale Version dieses Bühnenwerks aus dem Jahr 1903 zu sehen bekommen. Vielmehr haben die jungen Studierenden zusammen mit Olivier Tambosi aus der Vorlage ein neues, zeitgemässes Bühnenwerk kreiert. Sie haben dabei das Erfolgsstück des Amerikaners Victor Herbert in seine einzelnen Bestandteile zerlegt, einzelne Szenen herausgepickt, sie hinterfragt und neu zusammengesetzt.

Anlass für eine kritische Auseinandersetzung mit der Vorlage gaben etwa die im Werk vermittelten traditionellen Rollenbilder von Mann und Frau. «Szenen, die solche Stereotypen enthalten, sollte man nicht einfach verbieten, sie aber mit den Augen unserer Zeit betrachten und in einen neuen Kontext stellen», sagt Mathias Behrends.

Raum für solche Betrachtungen boten etwa die Sprechtexte zwischen den einzelnen Gesangsteilen. «Sie sind alle vollkommen neu. Die Ideen dazu stammen von den Studierenden.» Zum Einsatz kommen dabei auch Videoprojektionen.

Themen auf der Bühne, welche die Menschen beschäftigen

Ohnehin gehört es zum Konzept des Schweizer Opernstudios, dass die Produktionen in einem partizipativen Prozess aller Beteiligten erarbeitet werden. «Die angehenden Opernsängerinnen und -sänger lernen sehr viel dabei, auch weil sie Fragen stellen und Neues wagen dürfen», sagt Regisseur Olivier Tambosi. Das Schweizer Opernstudio bietet dazu einen idealen Rahmen, da es wie eine Art geschützte Werkstatt funktioniert. Hier können die Studierenden ihre stimmlichen Möglichkeiten ausprobieren und Bühnenerfahrung sammeln.

Die jungen Sängerinnen und Sänger kommen jeweils aus der ganz Welt nach Biel, um sich während zweier Jahre für eine Opernkarriere auszubilden. Mathias Behrends ist es ein Anliegen, dass ihre Anregungen und Ideen in die Produktionen Eingang finden. «Mir ist es wichtig, Themen auf die Bühne zu bringen, welche die jungen Menschen beschäftigen.» Im Mittelpunkt der vergangenen Produktion «Die Brücke von St. Luis Rey» stand die Thematik der Umweltzerstörung. Im derzeitigen Werk «Babes in Toyland» setzten sich die jungen Studierenden mit existenziellen Fragen auseinander.

Auch musikalisch geht das Schweizer Opernstudio in dieser Produktion seinen eigenen, reizvollen Weg: Die eingängigen Gesangsnummern Herberts werden passend von einem Salonorchester unter Leitung von Riccardo Bovino begleitet.

Bei der Bieler Fassung von «Babes in Toyland» handelt es sich in den Worten von Mathias Behrends zwar um eine musikalische «Erinnerungsreise». Doch macht das Schweizer Opernstudios auch in dieser Produktion einmal mehr deutlich, dass Oper und Operette nicht eine Kunstform ist, die der Vergangenheit nachhängt, sondern dass sie sich mutig den Fragen der Gegenwart zu stellen hat.

Info: Freitag/Samstag, jeweils 19.30 Uhr, Volkshaus, Aarbergstrasse 112, Biel. Eintritt frei, Kollekte. Weitere Infos unter www.hkb-musik.ch