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Grossaffoltern

Metzger Loder hatte das schönste Auto im Dorf

Am Wochenende feiert die Gemeinde Grossaffoltern ihr 800-jähriges Bestehen. Neben dem Fest macht sie sich auch ein dauerhaftes Geschenk: Ein Fotoband, der Einblick in das Leben im 20. Jahrhundert gibt. Die Bilder zeigen, wie sich weltweite Entwicklungen im Kleinen äusserten.

Metzgermeister Ernst Loder, Bruder von Hermann Loder, fährt seine Familie zu einem Sonntagsausflug (1926). zvg

Tobias Graden

Neun Jungen stehen am Waldrand, zehn bis zwölf Jahre alt. Sie tragen Stahlhelme und sind ähnlich gekleidet. Jeder hat ein Holzgewehr, vor der Gruppe steht der Nachbau einer Kanone. Es ist 1942.
Das Bild findet sich auf Seite 92 des neuen Fotobandes der Gemeinde Grossaffoltern, den sich diese zu ihrem 800-Jahr-Jubiläum schenkt. Auf der Doppelseite davor und in der Bildlegende findet sich die Erklärung für das Sujet: Im Dorf sind 100 polnische Soldaten interniert, sie werden als Hilfskräfte in Landwirtschaft und Gewerbe eingesetzt, die Dorfbevölkerung freundet sich mit ihnen an. So kommen die Kinder zu den Spielgewehren: Sie geben den Polen ein Holzbrett, eine Blechbüchse und zwei Päckchen Zigaretten. Nach einer Woche bekommen sie ein sorgfältig geschnitztes Holzgewehr mit Eisenbeschlägen zurück.

Neben diesem Bild findet sich eines von der Ortswehr Ottiswil: Männer, die für den Aktivdienst nicht in Frage kommen, sich aber gleichwohl militärisch nützlich machen wollen. Ihre Gewehre und Uniformen sind echt. Der Dienst ist locker, ein Mann hält eine Flasche in der Hand.

Dringlichkeit…

Grossaffoltern war nicht ein Brennpunkt der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, das lässt sich aus den Bildern im Fotoband leicht erkennen. Die „Gruppe Fotoband“, die als eine der Untergruppen des Organisationskomitees für das Jubiläum gebildet worden war, hat ihr Buch aber nicht als bloss anekdotische Sujetsammlung gestaltet. In den Bildern aus den Dörfern zeigen sich grosse Entwicklungen des letzten Jahrhunderts auf subtile Weise.
Da ist die Metzgerfamilie Loder vor einem Sonntagsausflug im Jahr 1926. Feierlich posiert sie im Familienauto, der Patron am Steuer blickt nicht einmal in die Kamera. Metzger Loder hatte früh ein Privatauto. Der Fotograf verdichtet den Moment zu einer deutlichen Aussage über den Status der Familie Loder.

Es ist dies eines der Kriterien, die Kathrin Gschwend und Simon Baumann, in Absprache mit der Gruppe zuständig für die Auswahl der Bilder, bei der Selektion angewendet haben: die Dringlichkeit der Aussage. Der Prozess war schwierig genug: Mehr als 1500 Bilder wären in Frage gekommen, 112 haben es ins Buch geschafft. Zuvor standen Aufrufe im Gemeindeorgan, die Einwohnerinnen und Einwohner mögen doch alte Bilder einsenden. Zusätzlich gingen vier Frauen zu alten Dorfbewohnern und fragten nach Bildern. Die ursprüngliche Idee, eine interaktive Datenbank mit der Ausbeute zu gestalten, erwies sich fürs Erste zwar als zu aufwändig und hätte die älteren Menschen in der Gemeinde wohl auch nur bedingt erreicht. Doch mittlerweile sind gegen 2000 Bilder digitalisiert und sollen dereinst auch digital zugänglich gemacht werden.

Vorerst aber blicken einem ernste Gesichter in analoger Form entgegen. Zum Beispiel die Familie Häni im Jahr 1913 vor ihrem Hof – dass das Bauernleben kein leichtes war, lässt sich besonders im Kindergesicht ablesen. Familien vor ihren Häusern, Arbeiter in ihrem Betrieb: Das ist ein oft gewähltes Sujet in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ganze Existenzen sind in einem Bild verdichtet, entsprechend ernst ist der Moment. Noch ist ein solches Bild etwas Besonderes, das pausenlose Selfie-Schiessen liegt noch in ferner Zukunft, Fotografien werden vielleicht alle paar Monate mal gemacht, die Stimmung ist darum feierlich.

…und Dramaturgie

Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt der Aufschwung. Luftaufnahmen zeigen, wie Obstbaumplantagen verschwinden und Einfamilienhauszonen entstehen. Fotografien sind nicht mehr so selten, die Sujets werden ungezwungener. Und doch ist das Bild von der Hochzeit von «Pinte»-Wirtstochter Rosemarie Dick und Heinz Müller ein Schnappschuss, achtete man doch gerade an Hochzeiten auf feierliches Posieren. Hier aber sitzt die Hochzeitsgesellschaft locker im elegant geschwungenen Bus der Transportfirma aus dem Nachbardorf, blickt mit lachenden Gesichtern nach draussen, wo sich in Bewegungsunschärfe abgelichtete Kinder auf die Hochzeitstäfeli stürzen.
Kathrin Gschwend und Simon Baumann haben – wen wundert’s? – filmisch gedacht bei der Festlegung der Abfolge der Bilder. Der Fotoband folgt einer kuratierten Dramaturgie, und bei der Selektion war die fotografische Qualität der Bilder ein wichtiges Kriterium. Aber nicht das einzige: Der Band soll ein möglichst breites Bild der ganzen Gemeinde zeigen, alle Dörfer und die wichtigsten Vereine berücksichtigen, die wichtigsten Themen beinhalten. Das gestrenge Gruppenbild des Turnvereins aus dem Jahr 1930 ist also nicht wegzudenken.

«Gmeinwärch» damals und heute

Das Buch erinnert aber auch daran, was es mit dem Wort «Gemeinde» auf sich hat. Während sich heute selbst ein liberaler Think Tank wie Avenir Suisse Gedanken darüber macht, mit welchen Anreizen die Freiwilligenarbeit gefördert werden könnte, zeigt ein Bild von 1956, wie das früher funktionierte. Frauen machen Pause während des «Gmeinwärchs». Sie helfen bei der Instandhaltung der Wege, pro Halbtag Arbeit erhielten die Familien eine Gutschrift für die Steuern, wer sich nicht beteiligte, hatte mehr zu zahlen. Ganz verschollen ist es nicht, das «Gmeinwärch»: Im schlichten, aber aufschlussreichen Fotoband der Gemeinde Grossaffoltern stecken viele, viele Halbtage Arbeit drin.

 

Zum Buch

  • 124 Seiten, gebunden
  • 112 Bilder aus den Jahren 1902 bis 1992
  • Enthalten sind Bilder aus den Dörfern Ammerzwil, Grossaffoltern, Kosthofen, Ottiswil, Suberg, Vorimholz, Weingarten
  • Auflage 500 Stück
  • Während der 800-Jahr-Feier kostet der Fotoband Fr. 48.-, danach Fr. 56.-. Am Fest ist er am offiziellen Verkaufsstand erhältlich, ab Montag auf der Gemeindeverwaltung Grossaffoltern.
  • Die Beteiligten in der Gruppe Fotoband: Susanne Kohler, Marianne Schmied, Rosa Streit, Barbara Weibel, Barbara Moser, Christine Loosli, Kathrin Gschwend, Jürg Eberle, Wolfgang Durrer, Daniel Simond, Simon Baumann. tg

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