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Sophie Scholl

«Ach, die paar Jährle noch ...»

Im Alter von 21 Jahren ist die deutsche Widerstandskämpferin Sophie Scholl von den Nazis hingerichtet worden, zusammen mit ihrem Bruder Hans sowie Christoph Probst. Morgen jährt sich ihr Geburtstag zum 100. Mal.

Sophie Scholl im Alter von 20 Jahren während ihrer Erstausbildung zur Kindergärtnerin. Wikipedia

Beat Kuhn

Am 21. November letzten Jahres demonstrierten auf dem Opernplatz in Hannover Gegnerinnen und Gegner der Coronamassnahmen von Bund und Ländern. Auf der kleinen Bühne ergriff unter anderem auch eine junge Frau das Wort, die sich als «Jana aus Kassel» vorstellte. Sie erklärte, sie fühle sich wie Sophie Scholl, denn sie setze sich seit Monaten im Widerstand ein. Die Empörung über diese Aussage begann schon vor Ort: Ein Mitglied des Ordnungsdienstes zog seine orange Weste aus und überreichte sie der Rednerin mit den Worten: «Für so einen Schwachsinn mach ich doch nicht den Ordner.»

Es folgte ein Shitstorm auf Twitter, an welchem sich sogar der deutsche Aussenminister Heiko Maas (SPD) beteiligte: Wer sich heute mit Sophie Scholl vergleiche, «verhöhnt den Mut, den es brauchte, Haltung gegen Nazis zu zeigen», schrieb er. «Das verharmlost den Holocaust und zeigt eine unerträgliche Geschichtsvergessenheit. Nichts verbindet Coronaproteste mit Widerstandskämpfern. Nichts!»

Temperamentvoll und höchst empfindsam
Sophie Scholl wird am 9. Mai 1921 in der Gemeinde Forchtenberg in Baden-Württemberg geboren. Neben ihrem drei Jahre älteren Bruder Hans hat sie die weiteren Geschwister Inge, Elisabeth und Werner. Auch Halbbruder Ernst aus einer vorehelichen Beziehung von Vater Robert wächst im Hause Scholl auf. Mutter Magdalena ist bis zu ihrer Verheiratung Diakonissin gewesen, also Mitglied einer klosterähnlichen Schwesterngemeinschaft, und hat eigentlich gar nie heiraten wollen. Insbesondere durch sie werden die Kinder christlich geprägt. Bis 1930 lebt die Familie in Forchtenberg, dann folgt ein zweijähriges Zwischenspiel in Ludwigsburg, und ab 1932 hat sie den Wohnsitz in Ulm. Dort betreibt der Vater eine Kanzlei als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater.

Zunächst deutet nichts darauf hin, dass Sophie und Hans dereinst zu den «Geschwistern Scholl» werden, den berühmtesten Widerstandskämpfern neben Oberst Stauffenberg, nach denen viele Schulen benannt sind. Im Gegenteil: Als Sophie 1934, mit 13 Jahren, dem Bund Deutscher Mädel (BDM) beitritt, dem weiblichen Zweig der Hitlerjugend (HJ), ist sie Feuer und Flamme für das von den Nazis propagierte Gemeinschaftsideal und wird Scharführerin. Wie Hans in der HJ ordnet sie Mutproben und Härtetests an, in denen sie sich und den anderen das Äusserste abverlangt. Sie gebe 150-prozentigen Einsatz, heisst es von ihr, weswegen sie bei manchen BDM-Kameradinnen gefürchtet ist.

Sophie ist sehr lebhaft: In ihrem Erlebnishunger sei sie «wie ein wilder Junge» gewesen, erinnert sich eine Jugendfreundin später. Aus diesem Grund – und auch wegen ihres Kurzhaarschnitts – wird sie als «Buabmädle» tituliert. Zeugnis dieser temperamentvollen Seite sind Fotos, auf denen sie intensiv und teilweise verschmitzt lacht. Auf vielen Fotos blickt sie mit ihren schwarzen Augen aber sehr ernst, ja verloren und träumerisch. Sie hat eben auch eine ganz andere Seite: Ihre Briefe und Tagebuch-Aufzeichnungen zeigen sie als Menschen von hoher Empfindsamkeit für die Schönheiten der Natur und von tiefem christlichem Glauben. In ihren Briefen kommt mehrmals ein Zitat des französischen Philosophen Jacques Maritain vor: «Man muss einen harten Geist und ein weiches Herz haben.»

«Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten»
Während die Mutter auf der spirituellen Ebene auf die Kinder einwirkt, tut es der Vater auf der weltlichen, politischen Ebene: Robert Scholl, der auf erhaltenen Filmaufnahmen als energischer Mann in Erscheinung tritt, ist ein entschiedener Gegner der Nazis. Auf diese gemünzt, macht er ein Goethe-Wort zum Familienmotto: «Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten, nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen.» Und nach anfänglichen Schwierigkeiten erreicht er die Kinder mit seinem Appell, den eigenen Verstand zu benutzen und die Dinge immer kritisch zu betrachten. Alle Kinder wenden sich von der Jugendorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) ab und wechseln in eine zunächst noch bestehende Anti-Nazi-Jugendorganisation. Diese ist aber eigentlich verboten, und im Herbst 1937 werden Sophie, Inge, Werner und Hans von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhaftet. Sophie, die Jüngste, wird nach wenigen Stunden wieder entlassen, Inge und Werner bleiben eine Woche in Stuttgart inhaftiert, Hans sogar fünf Wochen.

Im selben Jahr lernt die damals 16-jährige Sophie an einer Tanzveranstaltung Fritz Hartnagel kennen und lieben. In seinen Schilderungen erscheint sie als emotionaler, leidenschaftlicher Mensch. Ihr Tanzstil etwa sei von anderen Mädchen als «unanständig» gescholten worden. Während seiner Offiziersausbildung bleiben die beiden in brieflicher Verbindung. Kurz vor Ausbruch des Krieges 1939 verbringen sie einen gemeinsamen Urlaub in Norddeutschland und leben später, als Hartnagel Ausbildungsoffizier in Weimar ist, einige Wochen zusammen. Die Beziehung zu Sophie schildert er später als nicht einfach.

Einzige Frau in der «Weissen Rose»
Nachdem sie im März 1940 das Abitur gemacht hat, besucht Sophie ab Mai 1940 das evangelische Kindergärtnerinnen-Seminar in Ulm. Das damals beginnende Lesen in den Werken von Augustin bewirkt eine Wende und Umkehr in ihrem Leben. Von da an findet sie in den Schriften des Kirchenvaters Orientierung. Im Mai 1942 beginnt sie in München Biologie und Philosophie zu studieren. Hartnagel, mit dem sie inzwischen verlobt ist, besucht sie dort, bevor er in den deutsch-sowjetischen Krieg muss. In den Sommer-Semesterferien muss sie in einem Ulmer Rüstungsbetrieb arbeiten.

Durch Hans, der in München Medizin studiert, lernt Sophie Studenten kennen, die sie in ihrer Ablehnung der Nazi-Herrschaft bestärken. Der Bruder hat sie aus der Widerstandsgruppe, die sich «Weisse Rose» nennt, heraushalten wollen, doch Sophie schliesst sich dieser trotzdem an. Sie ist die einzige Frau im engsten Kreis der Organisation, der aus sechs Personen besteht. Nun entschlossen zu öffentlicher Kritik, beteiligt sie sich an der Herstellung und Verbreitung von Flugblättern, in denen zum Sturz des Hitler-Regimes aufgerufen wird. Diese werden beispielsweise in Telefonzellen abgelegt oder per Post verschickt. Im Januar 1943 ist Sophie erstmals an der Herstellung eines Flugblattes beteiligt. Auch in Köln, Stuttgart, Berlin und Wien werden die Schriften verteilt. Als Fritz Hartnagel Sophie einmal fragt, ob sie sich bewusst sei, dass ihre Aktionen sie den Kopf kosten könnten, sagt sie mit klarer Stimme: «Ja, darüber bin ich mir im Klaren.» Die Flugblätter verursachen Aufsehen und haben eine intensive Fahndung nach den Urhebern zur Folge. Mitte Februar 1943 wird das sechste Flugblatt fertiggestellt. Inzwischen vermutet die Gestapo die Autoren der Flugblätter in Münchner Studentenkreisen.

Bei Flugblattaktion in der Uni verhaftet
Dann kommt der verhängnisvolle 18. Februar, ein Donnerstag. Am Morgen machen sich Sophie und Hans daran, in den Gängen der Universität etwa 1700 Flugblätter zu verteilen. Kaum haben sie das Gebäude verlassen, bemerkt Hans, dass er in seiner Aktentasche noch Exemplare hat. Sie gehen zurück ins Gebäude, eilen die Treppe hoch in den zweiten Stock und legen auch diese Blätter noch aus. Einem dieser Stapel versetzt Sophie einen Schubs, und die Blätter segeln in den Lichthof hinunter.

Ein Hauswart wird darauf aufmerksam und stellt die beiden. In der Münchner Gestapo-Zentrale werden Sophie und Hans während drei Tagen einzeln verhört. Wie dem Vernehmungsprotokoll zu entnehmen ist, versuchen beide konsequent, die anderen Mitglieder der «Weissen Rose» zu schützen. Nur bei Christoph Probst gelingt dies nicht: Sein Name steht auf dem Entwurf für das siebte Flugblatt, den Hans bei der Verhaftung auf sich getragen hat. Vier Wochen zuvor ist der 23-jährige Probst zum dritten Mal Vater geworden, seine Frau leidet am Kindbettfieber.

Am folgenden Dienstag, 22. Februar, werden die drei von Richtern des Volksgerichtshofs unter dem Vorsitz des berüchtigten Roland Freisler «wegen landesverräterischer Feindbegünstigung, Vorbereitung zum Hochverrat sowie Wehrkraftzersetzung» zum Tode verurteilt. Das Urteil soll noch am selben Tag vollstreckt werden. Um 15 Uhr darf Sophie ihre Eltern – wie anschliessend auch Hans – im Gefängnis München Stadelheim noch einmal kurz sehen. Die Mutter reicht ihr einige selbstgebackene «Brötle». Sophie steckt sie mit einem Lächeln ein und sagt: «Ich habe ja noch gar nicht zu Mittag gegessen.» Die Mutter kämpft darum, so gefasst zu bleiben, wie es ihre Tochter ist, und raunt ihr zu: «Gell, Sophie, Jesus!» Worauf diese mit Nachdruck entgegnet: «Ja, Mutter, aber du auch!» Von der Situation völlig überfordert, sagt die Mutter noch: «Mein Liebes, nun wirst du also gar nie mehr bei mir zur Tür hereinkommen.» Darauf Sophie mit ihrem schwäbischen Akzent: «Ach Mutter, die paar Jährle noch...»

Um 17 Uhr enthauptet der Scharfrichter erst Sophie, dann ihren Bruder Hans und schliesslich Christoph Probst mit der Guillotine. Der Henker, der im Laufe der Jahre insgesamt 3000 Todesurteile vollzieht, ist beeindruckt von Sophies Verhalten: «Ich habe nie jemanden so sterben sehen», wird er später sagen. Im Protokoll wird vermerkt, die Verurteilte sei «ruhig und gefasst» in den Tod gegangen. Sophies Exemplar der Anklageschrift, die noch in ihrer Todeszelle liegt, wird ihrer Schwester Inge übergeben. Diese bewahrt sie auf, bemerkt jedoch erst Jahrzehnte später, dass Sophie auf der Rückseite mit Bleistift ein Wort geschrieben hat: «Freiheit».
Nach der Hinrichtung von Sophie und Hans werden die Eltern sowie die beiden Töchter Elisabeth und Inge in Sippenhaft genommen – die Brüder Werner und Ernst sind im Kriegseinsatz. Elisabeth wird aufgrund ihres Gesundheitszustandes nach einem Monat entlassen, die Mutter und Inge nach fünf Monaten, der Vater erst nach 18 Monaten.

Nach dem Krieg heiratet Fritz Hartnagel Sophies um ein Jahr ältere Schwester Elisabeth. Er stirbt 2001, sie überlebt ihn um fast zwei Jahrzehnte: Am 28. Februar 2020 stirbt sie, einen Tag nach ihrem 100. Geburtstag.

Hauptquelle: Hermann Vinke, «Das kurze Leben der Sophie Scholl», 1997.

Stichwörter: Sophie Scholl, Weisse Rose

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