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London/Brüssel

Bedrohliche Engpässe sind möglich

Ein ursprünglich internes Papier der britischen Regierung nennt die möglichen Folgen eines Brexit ohne Abkommen: Mega-Staus, leere Regale und eine überforderte Polizei.

Die Versorgung Grossbritanniens ist bald kein Kinderspiel mehr: Premier Boris Johnson gestern bei einem Schulbesuch. Bild: Keystone

Was passiert bei einem ungeregelten Brexit? Eine Studie der britischen Regierung, «Yellowhammer» genannt, hat die Folgen säuberlich über mehrere Seiten aufgelistet. Sie warnt vor Protesten. Dies könnte eine «erhebliche Menge» der Polizeikräfte in Anspruch nehmen. Eher pessimistisch äussern sich die Experten, ob wirklich eine harte Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland vermieden werden kann. Kritiker fürchten in dem Fall politische Unruhen.

Wie ein Horrorszenario

Auf Druck des Parlaments hat die Regierung das Papier am Mittwochabend öffentlich gemacht. Es liest sich wie ein Horrorszenario. Selbst auf dem Meer wird mit Ärger gerechnet: Es könnte zu Auseinandersetzungen zwischen britischen Fischern und Kollegen aus EU-Ländern kommen.

Wegen Zollkontrollen könnten den Dokumenten zufolge am Ärmelkanal tagelange Wartezeiten für Lastwagen entstehen. Es könnte bis zu drei Monate dauern, bis sich die Lage beruhigt. Dies führe womöglich unter anderem zu Lieferengpässen bei Medikamenten. In der Folge könnten Krankheiten bei Tieren ausbrechen, die wiederum die menschliche Gesundheit gefährden.

Einige Lebensmittel wie frisches Gemüse dürften knapp werden. Hamsterkäufe könnten das Problem verschlimmern – schon jetzt decken sich viele Briten vorsichtshalber mit Waren ein. Lagerhallen für empfindliche Produkte sind längst ausgebucht. Die Engpässe und Hamsterkäufe führen den Dokumenten zufolge zu steigenden Preisen – nicht nur bei Lebensmitteln. Auch der Treibstoff soll teurer werden.

Ferienreisende müssten sich auf Flughäfen, bei Fahrten über den Ärmelkanal und bei Nutzung des Eurotunnels den Prognosen zufolge in Geduld üben.

Regierung ändert Titel

Der «Sunday Times»-Journalistin Rosamund Urwin waren schon vor Wochen inhaltlich identische Dokumente mit der Überschrift «Grundlegendes Szenario» zugespielt worden, wie sie auf Twitter schrieb. Die von der Regierung veröffentlichten Papiere tragen den Titel «Planungsannahmen für den schlimmsten Fall».

Nicht alles offengelegt

Durch die geänderte Überschrift sieht sich die Opposition in ihrer Vermutung bestätigt, dass Premierminister Boris Johnson die möglichen Folgen eines ungeregelten EU-Austritts am 31. Oktober herunterspielt.

Der Labour-Politiker Andy McDonald sagte, die Planungen erinnerten an einen «Krieg oder an eine Naturkatastrophe». Ausserdem bleibt die Regierung weit hinter den Forderungen des Parlaments zurück. Die Abgeordneten hatten am Montag, kurz vor dem Beginn einer von Johnson auferlegten fünfwöchigen Zwangspause, die Herausgabe aller Dokumente zu den No-Deal-Planungen verlangt. Zudem forderten sie die komplette Korrespondenz dazu an, inklusive E-Mails und Kurznachrichten wichtiger Regierungsmitarbeiter.

Staatsminister Michael Gove wies die Forderung als unverhältnismässig zurück. Die Regierung müsse die Privatsphäre ihrer Mitarbeiter schützen.

Derweil geht die Debatte um eine Verlängerung der Brexitfrist über den 31. Oktober hinaus weiter, in London und in Brüssel. Nach Angaben des EU-Parlamentspräsidenten David Sassoli hat Johnsons Regierung noch keinen neuen Vorschlag für die Modalitäten des Austritts gemacht. Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier hatte zuvor die Fraktionsvorsitzenden des Europaparlaments über den Stand der Vorbereitungen auf den Brexit informiert.

EU liegen keine Vorschläge vor

«Bis jetzt hat Grossbritannien keine Alternativen vorgeschlagen, nichts, was rechtlich glaubwürdig und funktionsfähig wäre», sagte Sassoli.

Das Europaparlament sei zu einer erneuten Verschiebung des Austrittsdatums bereit, falls Grossbritannien dafür gute Gründe angebe – beispielsweise die Vermeidung eines Austritts ohne Austrittsvertrag oder eine Neuwahl. «Leider zeigen die Signale, die wir bekommen, nicht, dass es irgendeine Initiative gibt, die die Verhandlungen wieder eröffnen könnte.» sda

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