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Moderne Nomaden

Das schwarze Gold 
von Niedersachsen

Das Leben im Bus ermöglicht Martina Zürcher und Dylan Wickrama immer wieder Kurzurlaub. So zum Beispiel an einem gewöhnlichen Donnerstagvormittag, als sie dem Deutschen Erdölmuseum in Wietze einen Besuch abstatten.

In Wietze, Niedersachsen, lernten Martina Zürcher und Dylan Wickrama erstaunlihces über den Erdölrausch in Deutschland. Bild: zvg/Dylan Wickrama
  • Dossier

Martina Zürcher

Silbrig schimmert der Boden, hie und da wächst Moos, weich fühlt es sich unter den Schuhsohlen an. Auch die Entstehung des Bodens hatte uns Mike, ein kleiner Mann mit wachen Augen bereits erklärt. Wenn Erdöl bei der Gewinnung auf den Boden tropft und somit dem Sauerstoff ausgesetzt ist, sorgen Bakterien, die im Öl lagern, dafür, dass das Öl schnell eintrocknet und nach drei Wochen zu einer Art Gummimatte wird, die sich einfach vom Boden lösen lassen würde. Später zeigt er uns das anschaulich bei einem Öl-Loch im Garten. Am kniehohen Eisenzaun, der das Loch umgibt, haben Besucher schwarzen klebrigen Masse hingeschmiert. «Seht ihr hier, wie es bereits eingetrocknet ist? Das ist vor knapp drei Wochen passiert.» Ich drücke meinen Finger hinein, es fühlt sich an wie Knete. Dann greift er zum Holzstock, der im Erdloch steckt, hebt und senkt ihn ein paar Mal kräftig, bevor er ihn hochzieht und uns die glänzenden, dickflüssigen Rückstände, die am Stock kleben, vor die Nase hält. Ein paar schwarzgetünchte Eichenblätter hängen am Stock fest. «Riecht ruhig daran, es ist nicht giftig!»

Erdöl – nicht giftig?
«Es wurde festgestellt, dass das Erdöl von hier nicht toxisch ist. Schaut, es wächst doch hier überall Gras und Moos.» Um das Erdölloch wächst tatsächlich Gras, die Bäume auf dem Museumsgelände sehen gesund aus, obwohl zu ihren Füssen Erdöl aus dem Boden drückt. «Überall hier in der Gegend gibt es noch Teiche und Tümpel, wo das Öl, nachdem es geregnet hat, von selbst an die Oberfläche drückt. Mitten in der Natur.» Noch anschaulicher wird es, als Mike weitererzählt: «Die Wildschweine suhlen sich, wie damals die Hausschweine, gerne im Öl.» Es verklebt sich in ihren Borsten und tötet Parasiten ab. Ein paar Wochen später scheuern die Tiere die eingetrocknete Schicht samt Ungeziefer an den Bäumen ab. «Wirklich!», bestätigt Mike, als er unsere erstaunten Gesichter sieht. «Die lieben das Zeugs. Die Jäger hier in der Gegend schmieren heute noch Erdöl an bestimmte Stellen, um Wildschweine anzulocken. Die kommen immer und dann – päng!»

Als die Wietzener Bauern im 17. Jahrhundert sahen, dass ihre Schweine nach dem Bad im Teerschlamm nicht starben, sondern noch fast besser aussahen als zuvor, wagten sie sich an weitere Experimente. Der schreibende Bauer hatte ein altes, schon fast totes Pferd. Er unterzog es einem Experiment und schmierte dem geschundenen Arbeitstier das Erdöl in die auf dem Rücken offenen Wunden. Zu seinem Erstaunen verheilten die eitrigen Wunden innerhalb weniger Tage. «Das Pferd starb trotzdem.» Die Stimme unseres Museumsführers klingt wie die eines Komikers, theatralisch verwirft er die Hände und erzählt weiter: «Aber die Wunden hatten sich geschlossen, also musste da doch was sein.» Nach und nach probierten die Menschen weitere Dinge aus. Satanspeck, wie das Öl aus der Erde auch genannt wurde, wurde an menschlichen Wunde ausprobiert. Und was von aussen gegen Parasiten hilft, muss doch auch von innen helfen. Also fingen sie an, das Zeug, von dem sie immer noch nicht wussten, was es war, mit Honig zu trinken. Eine gar nicht so blöde Idee, Erdöl half gegen 
Würmer, und die findigen Wietzener fingen an, die Arznei zu verkaufen. Tatsächlich profitiert die Pharmaindustrie noch heute von Inhaltsstoffen des Erdöls, um Medikamente herzustellen.

Erste Bohrung in Amerika
Die weltweit erste Ölbohrung reklamieren die USA für sich. Sie fand 1859 in Pennsylvania statt. Dabei wurde hier im Deutschen Wietze, am südlichen Ausläufer der Lüneburger Heide, bereits vier Jahre zuvor die erste Erdölbohrung gemacht. Gesucht wurde damals allerdings nach Braunkohle und als aus dem 35,6 Meter tiefen Loch das schwarze Gold sprühte, interessierte dies in Deutschland keinen. Es dauerte 44 weitere Jahre und brauchte die Industrierevolution, bis der 
Ölrausch auch in Wietze ausbrach.

Zuerst wurde der Ölsand unterirdisch abgebaut, erzählt uns Mike, wir stehen mittlerweile im nachgebauten Stollen. Die Kälte des Frühlings 2019 ist in jeden Knochen gekrochen. So ungefähr müssen sich die Ölkumpel damals täglich gefühlt haben. Gicht war eine der meist verbreiteten Krankheiten hier. Andere starben an austretenden Gasen. «Weil das Öl auch von der Decke tropfte, konnten sie keinen Vogel hinhängen, der hätte bereits wegen dem Öl nicht mehr gesungen», erzählt Mike und grinst. Dann wird er wieder ernst, als er erzählt wie die Arbeiter nach jeder Schicht mit vier Liter Benzin duschten, um die klebrige Ölmasse vom Körper zu bekommen. Das machte ihre Haut so kaputt, dass die mit der Zeit einfach aufplatze. «Viele starben an aufgesprungenen Schlagadern.»

Goldgräberstimmung in Deutschland
Das Ölfeld wuchs so rasant, dass Gastarbeiter nach Wietze kamen. Sie brachten Goldgräberstimmung mit. «1905 gab es hier zu viel Alkohol und zu viele Männer. Vergewaltigungen und Waffengewalt waren normal.» Die 
Situation besserte sich erst fünf Jahre später, als die Erdölfirmen anfingen Häuser für die Mitarbeiter zu bauen, sodass ganze Familien nach Wietze zogen. «Hier lebten vor dem Ölboom bloss 160 Menschen und es gab nur noch zwei Familiennamen, es war also höchste Zeit, kam frisches Blut. Das wäre sonst nicht gut gekommen.»

Mike nimmt kein Blatt vor den Mund, seit er uns vor anderthalb Stunden im Museum angesprochen und vorgeschlagen hat, uns etwas zu den Ausstellungsstücken draussen zu erzählen. Als wir ihn nach seiner Funktion beim Museum fragen, ist er wohl gleichermassen erstaunt über die Frage, wie wir über die Antwort: «Ich bin nur das Sicherheitspersonal. Ich muss schauen, dass hier draussen nichts geklaut wird, die Leute nicht auf die Bohrtürme klettern und dergleichen. An 
Tagen wie heute, wenn ich nichts zu tun habe, nehme ich mir gerne Zeit den Besuchern mehr zu erzählen.»

Jetzt wo wir es wissen, machen es die schwarzen Kleider und die leicht bullige 
Statur offensichtlich. Ansonsten bricht er 
jeglichen Stereotyp. Noch nie haben wir einen Security-Mann getroffen, der informativer ist als das Museum und die Leidenschaft für seinen Arbeitsort so auf der Zunge trägt. Danke Mike!

Info: Martina Zürcher und Dylan Wickrama 
aus Biel leben und arbeiten seit Frühling 
2016 als moderne Nomaden auf vier Rädern 
anstatt in vier Wänden. 
www.ride2xplore.com

 

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