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Politik

Die Zukunft Boliviens 
ist ungewiss

Seit bald 14 Jahren regiert Evo Morales Bolivien. Die Brände im Amazonas haben seiner sonst schon angeschlagenen Popularität geschadet. Wird er diesen Sonntag wiedergewählt?

Boliviens Präsident Evo Morales fliegt im August dieses Jahres über die Gegend um Charagua, um sich einen Überblick über die Waldbrände zu verschaffen. Etwa ein Drittel der Chiquitano-Trockenwälder waren vom Feuer betroffen. keystone

Camilla Landbø, La Paz

Als Anfang Oktober der Regen in Mengen auf den Urwald niederprasselte, fingen die Feuerlöscher an zu tanzen. Sie jubelten, fielen auf die Knie und streckten dankend die Arme gegen den Himmel. Es flossen Tränen. Seit über zwei Monaten hatten die Waldbrände in Bolivien gewütet, dabei baum- und buschlose Ebenen hinterlassen, tote Ameisenbären, Schlangen, Pumas und Affen. Mehr als zwei Millionen Wildtiere sind im bolivianischen Amazonas, in der Savannenregion Chiquitanía und im Chaco Umweltschützern zufolge ums Leben gekommen. Und rund 5,5 Millionen Hektar Vegetation ist niedergebrannt.

Der Regen brachte nicht nur Erleichterung im Amazonas, sondern auch beim Staatschef Evo Morales, der seit bald 14 Jahren das Land regiert. Denn vor der Tür stehen die sowieso schon sehr umstrittenen Präsidentschaftswahlen von diesem Sonntag. Die Naturkatastrophe erlaubte es kaum, in den letzten drei Monaten Wahlkampagne zu betreiben. Mehr noch: Wegen der Brände stieg die Wut der Bevölkerung gegenüber Morales. Etwa, weil er das Desaster erst beschwichtigte. Seither ist der Präsident auch Gewaltausbrüchen und verstärktem Rassismus ausgesetzt.

Der heute bald 60-jährige Morales wuchs in einer sehr armen indigenen Bauernfamilie im bolivianischen Hochland auf. Später wurde er Kokabauer im tropischen Chaparé, wo seine politische Karriere begann. Erst wurde er Präsident der Gewerkschaft der Cocaleros, dann ging er mit ihrer Unterstützung ins Parlament. 2006 trat er das Amt des Staatschefs an.

Armut hat abgenommen

Dass ein Indigener in Bolivien Präsident wurde, war ein historischer Moment, nie dagewesen zuvor. In den ersten zwei Amtszeiten konnte Morales zusehends mit einer breiten Unterstützung in der Bevölkerung rechnen, denkt man die weisse Oberschicht und die Rechte weg, die ihn verachtete und als «Tier» bezeichnete. Morales führte wichtige, schon lang notwendige Veränderungen herbei. «Er gab den Indigenen, die über Jahrzehnte vergessen worden waren, ein Selbstwertgefühl und bezog sie in die Politik ein», sagt Roger Cortéz, politischer Analytiker aus der Regierungsstadt La Paz. Unter Morales sei es auch zu einer Umverteilung von Geldern und Ländereien gekommen.

Viele andere Errungenschaften, die dem Staatschef angerechnet werden, betrachtet Cortéz jedoch mit einem kritischen Auge. Etwa Bauten von Strassen, Wohn- und Schulhäusern sowie Spitälern. «Da müsste man über die Qualität und Nachhaltigkeit sprechen», sagt der 65-Jährige, und fügt an: «Ein neues Spital ist gut, aber wenn dann Ärzte und Medikamente fehlen ...» Und ja, die Armut habe abgenommen. «Die Frage ist jedoch, wie viele werden in den nächsten Jahren in die Armut zurückfallen?» Denn die Wirtschaft verlangsame sich wieder.

Seit die Brände im Amazonas beinahe gänzlich gelöscht sind, hebt Morales mit Flugzeug und Helikopter unermüdlich ab, besucht manchmal mehrere Städte und Dörfer am gleichen Tag, hält Reden, sichert den Menschen weitere soziale und wirtschaftliche Besserungen zu. Vielerorts wird er von grossen Massen mit Freude, Fähnchen und Jubel empfangen. Dass er nach wie vor Anhänger hat, ist offensichtlich. «Nichtsdestotrotz hat er etwa die Hälfte der Wähler in den letzten Jahren verloren», sagt Cortéz, «unter anderem weil er den Ausgang des Referendums nicht akzeptierte.»

Bürger fühlen sich übergangen

Morales sieht sich seit bald drei Jahren mit Unzufriedenheit und Protesten in der Bevölkerung konfrontiert. Im Februar 2016 sagten die Bolivianer in einem Referendum Nein zu einer Verfassungsänderung, die eine unbeschränkte Wiederwahl ihres Präsidenten ermöglicht hätte. Morales akzeptierte das Resultat nicht. Ende 2017 liess er sich diese erneute Kandidatur durch das Verfassungsgericht genehmigen. Seither fühlen sich viele Bürger übergangen und sehen die Demokratie mit Füssen getreten, die Opposition spricht von einer Diktatur.

Für die Brände im Amazonas machen viele Bolivianer direkt Morales verantwortlich. «Die Erträge durch Erdöl und Erdgas haben in der letzten Zeit abgenommen», sagt Cortéz, «unter anderem wegen der sinkenden internationalen Rohstoffpreise.» Die Regierung suche also neue Einnahmequellen und sehe diese in der Landwirtschaft. Erst eben im Juli habe Morales ein Dekret unterzeichnet, das die legale Gewinnung von Agrar- und Weideland in gewissen Departementen durch «kontrollierte Brandrodung» von Wäldern ausdehnte, von 5 auf 20 Hektar. Etwa, um Soja anzubauen. Ein Teil dieser Feuer sei ausser Kontrolle geraten.

Das schlimmste sei aber gewesen, so Cortéz, «dass Morales den Notstand nicht ausrufen und für die Löscharbeiten keine internationale Hilfe annehmen wollte». Bilder von verzweifelten Menschen in den Medien bewegten die Bolivianer. Eine Betroffene etwa rief in die Kameras: «Unsere Chiquitanía brennt! Es brennt alles, wir verlieren alles. Haben Sie Erbarmen!» Der linke Präsident begründete seine Entscheidung damit, dass er keine Einmischung von Aussen in eine innere Angelegenheit wolle, Bolivien schaffe es selber. Die anhaltenden Brände führte die Regierung auf das trockene Wetter und starken Wind zurück.

Die jüngsten Vorfälle haben die Gesellschaft weiter polarisiert. Für die einen ist Morales der Mann, der Bolivien regieren kann und eine vierte Amtszeit verdient. Zumal in seiner Regierungszeit viele Menschen in die Mittelschicht aufgestiegen sind. Cortéz: «Was kommt nach Morales? Diese Angst hat vor allem damit zu tun, dass die Leute ihre verbesserte wirtschaftliche Lage nicht verlieren möchten.» Bolivien kann seit Jahren ein nachhaltiges Wachstum und tiefe Inflation vorweisen. Dies widerspiegelt sich auch in den Strassen von La Paz, wo zusehends neue Privatautos, Cafés und Läden zu sehen sind.

Die Opposition ist gespalten

Und wenn nicht Morales, wer dann? Die Opposition hat nicht nur das Problem, dass sie nicht einheitlich auftritt, sondern, wie Cortéz sagt, dass sie nicht sichtbar sei. «Ich nenne sie die unsichtbaren Stummen. Sie sind zwar da, machen aber keine Kampagne.»

Der aussichtsreichste Gegenkandidat ist Carlos Mesa, der ein moderates Profil hat. Er tritt für eine bürgerliche Allianz an und war bereits von 2003 bis 2005 Präsident Boliviens. Weiter geht der konservative Ex-Senator Óscar Ortis fürs Präsidentenamt ins Rennen, ein Vertreter der Agroindustrie. Ihnen folgen ein paar völlig aussichtslose Kandidaten, unter anderem Chi Hyun Chung, ein Bolivianer mit koreanischen Wurzeln, der für «psychiatrische Behandlungen von Schwulen und Lesben» plädiert und häusliche Gewalt damit rechtfertigt: «Ein Mann reagiert gewalttätig, weil ihn die Frau provoziert.»

In den letzten zwei Wochen protestierten Hunderttausende Menschen gegen Morales´ Regierung, etwa in den Städten La Paz, Cochabamba und Santa Cruz. Vergangenen Samstag musste Morales eine Wahlkampfkundgebung mit Helikopter fluchtartig verlassen. Die Leute attackierten und beschädigten die Rednerbühne, beschimpften den Präsidenten unter der Gürtellinie. Cortéz: «Ich befürchte, wenn Morales die Wahl gewinnt, nimmt das zu.»

Kann Morales die Wahlen gewinnen? «Die Brände haben das Wählerverhalten verändert, Morales stagniert in vertrauenswürdigen Umfragen bei 37 Prozent der Stimmen.» Dies erhöhe die Wahrscheinlichkeit sehr, dass es zu einem zweiten Wahlgang komme. Um in der ersten Runde zu gewinnen, braucht Morales 50 Prozent plus eine Stimme oder mindestens 40 Prozent mit einem Vorsprung von 10 Prozentpunkten auf den Zweitplatzierten. Kommt es zu einer Stichwahl, wird der Gegenkandidat wohl alle Stimmen der Opposition vereint erhalten – und damit triumphieren.

Eines ist sicher, auch wenn Morales gewinnt, im Parlament wird er keine Mehrheit mehr erreichen. Dies wird ihm künftig das Regieren erschweren. Bei einem Sieg fürchtet Morales ausserdem einen Putsch, wie er diese Woche mitteilte. «Ich kann es beweisen, ich habe Aufnahmen aus dem Umfeld der Opposition, sie drohen damit.»

In all dem bleibt die Trauer um das Desaster in den Steppen und im Amazonas. Je nach Gebiet könne es bis zu 200 Jahre dauern, sagt Cortéz, bis die Busch- und Waldgebiete wieder nachgewachsen sind. «Und man stelle sich vor, die abgebrannte Fläche ist grösser als die Schweiz.»

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