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Ukraine

«Ich schäme mich, dafür gekämpft zu haben»

Manchmal gehen Schüsse nach hinten los. So verhält es sich auch mit Revolutionen. Was die Menschen in der Ukraine wollten, waren Neuwahlen, ein Abkommen mit der EU und das Ende der Korruption. Gekriegt haben sie einen neuen, noch reicheren Präsidenten. Und Krieg. Eine Reportage.

  • 1/11 Minenwarnung: Gesperrte Strasse in der Umgebung von Mariupol. © Matthias Käser / Bieler Tagblatt
  • 2/11 © Matthias Käser / Bieler Tagblatt
  • 3/11 Kiew, Maidan: Auf dem geschichtsträchtigen Platz ist der Alltag zurückgekehrt - oder zumindest fast. © Matthias Käser / Bieler Tagblatt
  • 4/11 © Matthias Käser / Bieler Tagblatt
  • 5/11 © Matthias Käser / Bieler Tagblatt
  • 6/11 Spuren des Krieges: Zerstörte Gebäude wie dieses findet man nicht mehr allzu oft. In diesem versteckten sich Separatisten - die Bevölkerung gewann es zurück. © Matthias Käser / Bieler Tagblatt
  • 7/11 © Matthias Käser / Bieler Tagblatt
  • 8/11 © Matthias Käser / Bieler Tagblatt
  • 9/11 © Matthias Käser / Bieler Tagblatt
  • 10/11 Einschusslöcher an der Hausmauer: In Gnutowo ist der Krieg alltäglich, sind die Bewohner verzweifelt. © Matthias Käser / Bieler Tagblatt
  • 11/11 Panzersperren. Für die heimischen lada kein Hindernis. © Matthias Käser / Bieler Tagblatt
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Sofiya Miroshnyk

Zwickelbier trinke er hier nicht, gepanscht soll es sein, sagt Schauspieler Yaroslav, 25, und bestellt ein Löwenbräu. Vera, die an eine Aktrice aus den Fünfzigern erinnert, nickt. Es ist ein schwüler Sommerabend in einem Kiewer Hipsterlokal nahe des Maidanplatzes, und Natalia beginnt mit einem Satz, mit dem die Essenz des dreistündigen Gesprächs eingefangen wird: «Heute denke ich, wir wurden verarscht.» Die drei waren Teil der Maidanbewegung vom November 2013, die Studierende ins Rollen gebracht haben, nachdem der damalige Präsident Viktor Janukovitsch die geplanten Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterschrieb.

Janukowitsch wurde nach Russland verjagt, viel ist von der anfänglichen Euphorie aber nicht geblieben. «Ich schäme mich, dafür gekämpft zu haben», sagt Sängerin Vera. Auch Natalia, 30, ist enttäuscht. Sie sei von Anfang an dabei gewesen, habe den Protestierenden Tee gebracht, nur um mit anzusehen zu müssen, wie Politiker ihre eigene Bevölkerung opfern. Über hundert Personen starben auf dem Maidan. Heute die himmlischen Hundert genannt, kamen sie unter anderem durch Scharfschützen der Regierung ums Leben. Vergebens gestorben seien sie jedoch nicht, denn die ganze Situation habe zwei Seiten, sagt Natalia, die heute in einer Telekommunikationsfirma arbeitet. «Die Proteste haben die Menschen dazu bewogen, sich für Politik zu interessieren».

In der Tat treffen wir während der sechstägigen Reise quer durchs Land keine Person, die nicht auch was zu der politischen Lage zu sagen hätte. Vom Taxifahrer bis hin zur alten Babuschka, alle haben eine Meinung. Die meisten Geschichten handeln von korrupten Gesetzesvertretern, niedrigen Löhnen und geplatzten Träumen. «Wir sind nicht zufrieden, aber wir hoffen», sagt Vera. Schliesslich muss man, wie eine alte Weisheit besagt, mit allem rechnen, auch mit dem Guten.

Wir begleichen die Rechnung und schlendern zwischen modernen Gebäuden und architektonischen Überresten aus der Sowjetzeit zum Maidanplatz, vorbei an flanierenden Pärchen und ausgelassen tanzenden Menschen. Keine Spur von Angst, kein Krieg in Sicht. Zwei Tage später wird in der Nähe ein Ukrainischer Journalist von einer Autobombe in den Tod gerissen werden.

Aus den Schlagzeilen

Vor über zwei Jahren zierten etliche Bilder aus Kiew die Titelseiten westlicher Medien, heute ist der Konflikt weitestgehend aus den Schlagzeilen geraten. Dies, obwohl die Ereignisse der letzten Monate aufhorchen lassen. Nach Angaben von Präsidialamtssprecher Andrej Lyssenko sind im Juli über 150 Soldaten getötet oder verletzt worden. Die Anzahl der Getöteten seit Ausbruch des Konflikts belaufe sich auf 10 000, die Frankfurter Allgemeine Zeitung spricht unter Berufung auf deutsche Sicherheitskreise von insgesamt rund 50 000 toten Soldaten und Zivilisten. Auch sonst ist die Faktenlage rund um den Konflikt so dick wie ein DIN A4 Blatt. Ukraine und die EU gehen davon aus, dass das russische Militär seit Ausbruch der Gewalt im Osten der Ukraine am Krieg beteiligt ist. Russland, das aufgrund dieses Vorwurfs Sanktionen der EU zu tragen hat, bezeichnet die Vorwürfe und deren Folgen wiederum als absurd. Auch um Begrifflichkeiten wird gestritten: Während sich die Ukraine gegen den Terror verbündet, weiss Russland die Auseinandersetzungen als Bürgerkrieg zu verstehen, und was für die Ukrainer Patrioten sind, sind für Separatisten und deren Sympathisanten gewaltgeladene Nationalisten. Am deutlichsten wird die gegenseitige Hassschürung am Beispiel der Sprache: «Ukrainisch ist zum Ausdruck für Patriotismus geworden, dabei hat ganz Kiew immer nur Russisch gesprochen», sagt Yaroslav.

Von «den» Separatisten und ihren Interessen zu sprechen ist irreführend, haben sie doch unterschiedliche Ziele. Die einen streben nach Autonomie, andere nach einem eigenen Staat, oder danach, unter die Fittiche des grossen Bruders, Russland, genommen zu werden. In Lugansk und Donetsk wurden Volksrepubliken ausgerufen. Mariupol, eine der drei wichtigsten Städte im Donbass, hat die Angreifer vor zwei Jahren vorerst in die Flucht geschlagen.

Mariupol – der Alltag im Krieg

Mittlerweile ist schüchtern der Alltag in die Stadt zurückgekehrt, tagsüber. Nachts knallen in der nahen Ferne die Gewehre. Nach zwei Jahren Krieg haben sich die Menschen dermassen an die Schüsse gewöhnt, dass sie gar nicht mehr aufhorchen. Sie leben im Wissen, dass keine zwanzig Kilometer weiter trotz Waffenruhe täglich Soldaten sterben. Allein letzte Woche haben im Donbass 14 ukrainische Soldaten ihr Leben verloren, so die Nachrichtenagentur Interfax.

Im Taxi an die Front

Wir fahren in Richtung Front an den Dörfern vorbei, passieren einen Check-Point nach dem anderen. Der 24h-Supermarkt im Dorf ist offen, daneben warten Menschen auf den Bus. In Gnutowo treffen wir auf Zerstörung, hier ist ein gehbehinderter Mann ums Leben gekommen. Die Nachbarin erzählt: «Ich war nur eine Sekunde weg, dann war er weg. Das Haus von einer Granate getroffen.» Die Splitter haben auch ihr Haus durchlöchert, doch «wo soll ich hin?», fragt sie und bricht dabei in Tränen aus.

Beim dritten Check-Point werden wir erneut angehalten, unsere Pässe zu zeigen. «Ein Russe würde hier nicht mehr weiterkommen», sagt Andrej, der seit 26 Jahren Taxi fährt und davon träumt, einmal mit einem schnellen Auto über die deutsche Autobahn zu rasen. Ob wir es seien, die am Vortag das Polizeigebäude fotografiert haben, fragt der Soldat und streckt die roten Pässe entgegen. Wir nicken und geben unser Ziel an, die zerbombte Brücke von Granitnoje, die eine der vielen Fronten zwischen Separatisten und der ukrainischen Armee bildet.

Sieben in ukrainischen Nationalfarben bemalte Panzersperren, die an eine Kohlenstoff-Vierfachbindung erinnern, lassen Andrej erstmals das Bremspedal durchdrücken. Die Strecke zwischen Check-Point vier und fünf ist wortwörtlich ein einziges Feld von brachliegenden Minen, die den sonst so stolzen Sonnenblumen jeden Hochmut geraubt haben. Nummer fünf, Endstation. Von hier aus sind vereinzelt Schüsse zu hören, 200 Meter vor dem Ziel werden wir gebeten, umzudrehen und sind nicht nur unglücklich darüber. Die Front, das sind rund 400 Meter Länge hier in Granitnoje. Nach Abzug der schweren Waffen sitzen die Gegner hier dicht aufeinander.

Alle politischen Versuche, den Konflikt zu beenden, scheitern. Sowohl die Separatisten wie auch die Ukrainische Armee brechen immer wieder die vereinbarte Waffenruhe und geben an, die anderen hätten zuerst geschossen. Während in Minsk erneut über Waffenstillstand verhandelt werden soll, will Belgien die Tage über eine Resolution der Sanktionen gegen Russland beraten.

Mit Blick auf den anhaltenden Krieg im Donbass sagt Yaroslav: «Wir sind ein geopolitischer Spielplatz. Gebt Russland alles und beendet das Sterben.»

Zur Person: Sofiya Miroshnyk (26), ist in der Ukraine geboren und lebt seit 15 Jahren in der Schweiz. Sie studiert Philosophie, Politik und Wirtschaft in Luzern.

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Nachgefragt

«Tragische Geschichten»

BT-Fotograf Matthias Käser hat in der Ukraine desillusionierte Menschen getroffen. Statt politischer Diskussionen hätten diese lieber ihre Ruhe.

Matthias Käser, BT-Fotograf

Matthias Käser, was war Ihr Antrieb, eine sechstägige Reportagereise in die Ukraine zu unternehmen?

Matthias Käser: Sofiya Miroshnyk und mir ist aufgefallen, dass man hierzulande kaum mehr was von der Ukraine hört. Wir haben den Aufenthalt vor ein paar Monaten geplant und ihn nun realisiert, da der Konflikt fast ganz aus den Nachrichten verschwunden ist – um daran zu erinnern, dass so nahe von Mitteleuropa weiterhin gekämpft wird.

Sind Sie vom Vorgefundenen überrascht worden oder haben Sie angetroffen, was Sie erwartet hatten?

Ich habe anders als bei meinem früheren Aufenthalt erst jetzt das Ausmass der Armut so richtig wahrgenommen. Aus eigenem Antrieb kann diese Gesellschaft gar nicht aus dieser Krise herausfinden. Doch die Hilfswerke und internationalen Institutionen agieren nur noch auf Sparflamme. Ich habe eine Hilfslieferung an ein Spital mitverfolgt: Es war für dieses schon ein grosser Fortschritt, 40 Jahre alte Betten zu erhalten. Es fehlt überall an allem.

Reichen denn sechs Tage aus, um sich ein breites Bild über einen komplexen Konflikt machen zu können?

Es war nicht unser Ziel, den gesamten Konflikt aufzuarbeiten – sondern schlicht mit den Menschen über die derzeitige Lage zu sprechen. Wir haben viele tragische und brutale Geschichten erfahren. Wie jene von Maria, der gar nichts Anderes übrig bleibt, als an der Front auszuharren.

Sie haben sich bis kurz vor die Front gewagt. Sind Sie in gefährliche Situationen geraten?

Nein. Wir hatten keine Akkreditierung zum Passieren des letzten Checkpoints und blieben auf der ukrainischen Seite. Das Risiko von Entführungen und Repressalien seitens der Separatisten wollten wir nicht eingehen.

In Kiew scheint der Krieg sehr weit weg. Wie stark ist er unter den Menschen präsent?

Wenn man sie darauf anspricht, haben alle etwas zu erzählen. In den Gedanken ist er sehr nah, im Alltag aber kaum anzutreffen.

Die Menschen scheinen mindestens teilweise sehr desillusioniert zu sein.

Diesen Eindruck habe ich in praktisch allen Gesprächen gewonnen. Flüchtlinge, die vom Osten in den Westen des Landes geflüchtet sind, werden dort von den eigenen Landsleuten gemobbt. Die Gesellschaft verdrängt und ist verroht.

Was ist Ihre persönliche Meinung zum Ukraine-Konflikt, der Rolle von Russland und von Europa?

Die Lage ist so komplex, dass man nicht allein von einem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sprechen kann. Sondern es ist auch ein Konflikt zwischen Oligarchen, Politikern und der Bevölkerung. Die Menschen aber möchten in erster Linie einfach ihre Ruhe haben.

Interview: Tobias Graden

Stichwörter: Ukraine, Krieg, Ausland, Reportage

Kommentare

Boezinger

Dieser Ukrainerin geht’s wie allen "Leitmedienkonsumenten" (BT Leser inklusive), sie haben nicht gemerkt, dass die USA einen rechtswidrigen Regimewechsel durchgesetzt haben. Meine Empfehlung: informiert Euch über RT (Russia today) und Klagemauer TV.


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