Sie sind hier

Abo

Jerusalem

Nach der Wahl ist fast alles unklar

Der Likud von Premier Benjamin Netanjahu und das Bündnis seines Rivalen Benny Gantz liegen bei den Parlamentswahlen in Israel fast gleichauf.

Symbolbild: Keystone

Als wegweisend hatte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die vorgezogenen Wahlen von gestern dargestellt: Die Anhänger seiner Likud-Partei müssten sofort wählen gehen, «oder wir bekommen eine linke Regierung mit den arabischen Parteien», schrieb er auf Twitter. Darauf, dass der Urnengang tatsächlich eine Richtungsentscheidung gebracht hat, deutete gestern Abend allerdings nichts hin. Vielmehr zeigte sich die Spaltung der israelischen Gesellschaft in rechts und links, säkular und religiös, Juden und Araber auch im Ausgang der Parlamentswahl. Wie schon vor fünf Monaten sind die beiden führenden Parteien praktisch gleich stark.

Der Likud kam laut TV-Prognosen von gestern auf 31 bis 33 Mandate in der Knesset, dem israelischen Parlament. Das Mitte-Bündnis Blau-Weiss von Netanjahus Herausforderer Benny Gantz erhielt demnach 32 bis 34 Mandate. Für eine Regierungsmehrheit sind mindestens 61 von 120 Sitzen notwendig. Resultate lagen bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe des BT noch keine vor. Die Ergebnisse werden für heute erwartet.

Maximal zehn Sitze für Lieberman

Nachwahlbefragungen verschiedener Fernsehsender sahen das rechte Lager mit Netanjahus konservativem Likud, der Jamina-Partei von Ex-Justizministerin Ajelet Schaked und den strengreligiösen Parteien bei 54 bis 57 Mandaten. Die rechtsextreme Ozma Jehudit (Jüdische Kraft) scheiterte demnach an der Sperrklausel von 3,25 Prozent.

Das Mitte-Links-Lager mit Gantz’ Bündnis Blau-Weiss, der Arbeitspartei, der Demokratischen Union und den arabischen Parteien erhielt den Angaben zufolgte 54 bis 58 Mandate.

Die ultrarechte Partei Israel Beitenu (Unser Haus Israel) des früheren Aussen- und Verteidigungsministers Avigdor Lieberman kann laut den Prognosen mit acht bis zehn Mandaten rechnen. Lieberman hatte Netanjahu nach der vorangegangenen Wahl im April die Unterstützung verweigert. Deshalb war es dem Regierungschef damals trotz einer Mehrheit des rechts-religiösen Lagers nicht gelungen, erneut eine Regierung zu bilden.

Rechnerisch möglich wäre, treffen die Prognosen von gestern Abend zu, eine grosse Koalition von Likud und Blau-Weiss. Eine solche hatte Lieberman im Wahlkampf gefordert. Allerdings hatte Netanjahu im Wahlkampf betont, er strebe eine rechts-religiöse Koalition an.

Gantz ist dagegen nur zu einer grossen Koalition bereit, wenn diese nicht von Netanjahu geführt wird – wegen der Korruptionsvorwürfe gegen den bisherigen Regierungschef.

Rebellion im Likud?

Ob parteiinterne Konkurrenten Netanjahus bereit sind, ihren Vorsitzenden zu stürzen, ist offen. Netanjahu wiederum wird schon allein wegen der drohenden Anklagen gegen ihn kaum freiwillig gehen. Jonathan Rynhold, Politikprofessor an der Bar-Ilan-Universität nahe Tel Aviv, sagt: «Es könnte dann einen Monat oder ein bisschen länger dauern, aber dann könnte jemand vom Likud eine Rebellion anführen.» Allerdings sei unklar, ob ein Mitglied des Likud oder Gantz die Regierung führen würde.

Die Strategie von Netanjahu ist mit dem Wahlausgang nur bedingt aufgegangen. Der 69-Jährige hatte im Wahlkampf Stimmung gegen Araber gemacht, mit einer angekündigten Annexion von weiten Teilen des besetzten Westjordanlandes rechte Wähler begeistert und die Angst vor dem Erzfeind Iran wach gehalten. Gantz kam im Dezember 2018 als Hoffnungsträger gemässigter säkularer Wähler in die Politik. Von Anfang an galt er als einziger ernstzunehmender Gegner Netanjahus. Er präsentiert sich seit seinem Einstieg in die Politik als Saubermann.

Dritte Wahl ist möglich

Die linksliberale «Haaretz» hatte vor der Wahl im Falle eines Patts wie nach dem vergangenen Urnengang von der Möglichkeit einer dritten Wahl Anfang 2020 geschrieben. Allerdings ist fraglich, ob es dafür nochmal eine Knesset-Mehrheit von 61 Stimmen gibt.

Unabhängig davon, wie die Koalitionsverhandlungen für Netanjahu ausgehen – bereits am 2. Oktober muss er sich einer Anhörung wegen mutmasslicher Korruption stellen. Ihm drohen Anklagen in drei Fällen. Der Regierungschef hat alle Vorwürfe zurückgewiesen und spricht von einer Hexenjagd auf ihn und seine Familie. mic/sda

Nachrichten zu Ausland »