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London

Unterhaus tagt heute wieder

Grossbritanniens oberstes Gericht hat die Zwangspause des Parlaments für nichtig erklärt. 
Für Premierminister Boris Johnson ist der Richterspruch eine Ohrfeige. Er fordert Neuwahlen.

Schuldig gesprochen wurde Boris Johnson zwar nicht. Er steht jetzt aber im Regen: Demonstranten vor dem Gericht. Bild: Keystone

Der britische Supreme Court hat die von Premierminister Boris Johnson auferlegte Parlaments-Zwangspause gestern für rechtswidrig erklärt und per sofort aufgehoben. Ausserdem forderte das oberste Gericht Grossbritanniens, das Unterhaus solle «so schnell wie möglich» wieder zusammenkommen. Dieser Forderung kam der Parlamentspräsident John Bercow sofort nach. Er kündigte an, das Parlament werde heute schon wieder tagen.

Oppositionschef Jeremy Corbyn von der Labour-Partei forderte Premierminister Johnson nach der Urteilsverkündung umgehend zum Rücktritt auf. Johnson selbst kündigte an, die Entscheidung des obersten Gerichts trotz Missfallens zu respektieren. «Ich muss sagen, dass ich überhaupt nicht einverstanden bin mit dem Urteil der Richter.»

Gleichzeitig forderte Johnson Neuwahlen. Es liege auf der Hand, dass jetzt Wahlen einberufen werden müssten, sagte er gestern am Rande der UNO-Vollversammlung in New York.

Freude über Gerichtsurteil

Jubel gab es nach dem Gerichtsentscheid auf der Klägerbank. Entscheidend am Urteil sei, dass auch der Premierminister nicht über dem Gesetz stehe, sagte Anti-Brexit-Aktivistin Gina Miller. Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon sagte, Johnson sei ungeeignet für das Amt, und wenn er nicht zurücktrete, sollte er entlassen werden.

Die Chefin der oppositionellen Liberaldemokraten, Jo Swinson, sagte, Johnson sei unfähig zu regieren. Ex-Generalstaatsanwalt Dominic Grieve zufolge stiess das Gericht in ein Vakuum vor, «das der Premierminister geschaffen hat, indem er sich entschlossen hat, die ungeschriebenen Regeln unserer Verfassung zu missachten», sagte der von Johnson geschasste ehemalige Tory-Abgeordnete dem Sender Sky News.

Einstimmiges Urteil

«Bei der britischen Verfassung beruht vieles auf Konventionen, das bedeutet auf dem Vertrauen, dass sich die Leute in einer bestimmten Weise verhalten», sagte Grieve. Johnson habe aber gezeigt, dass er sich nicht an diese ungeschriebenen Regeln halten wolle. Eine dieser Regeln laute, dass das Parlament nicht suspendiert werden darf, um politische Ziele zu erreichen.

Die Vorsitzende Richterin Lady Brenda Hale argumentierte bei der Urteilsverkündung, die Zwangspause hindere die Abgeordneten in «extremer» Weise an der Ausübung ihres verfassungsmässigen Auftrags. Das Parlament habe aber ein Recht darauf, in der Zeit vor einem wichtigen Ereignis wie dem geplanten EU-Austritt am 31. Oktober eine Stimme zu haben, so die Richterin in ihrer viel beachteten Begründung.

Die von Johnson bei Königin Elizabeth II. erwirkte Anordnung zur Parlamentsschliessung gleiche einem «weissen Blatt Papier», sagte Hale weiter. «Das Parlament ist nicht suspendiert. Das ist das einstimmige Urteil aller elf Richter.» Es handelt sich laut Hale um einen einmaligen Fall, den es unter diesen Umständen noch nie gegeben habe und «den es wahrscheinlich auch nie wieder geben wird».

Begonnen hatte die Zwangspause in der Nacht zum 10. September. Bei der Abschlusszeremonie kam es zu tumultartigen Szenen. Denn das Parlament sollte erst am 14. Oktober – etwa zwei Wochen vor dem geplanten Brexit zusammentreten.

Trotz Suspendierung konnte Johnson aber nicht verhindern, dass die Abgeordneten kurz vor der Zwangspause noch schnell ein Gesetz verabschiedeten, das den Premierminister zum Beantragen einer weiteren Verlängerung der Brexit-Frist verpflichtet. Sollte bis zum 19. Oktober kein Abkommen ratifiziert sein, müsste Johnson einen entsprechenden Antrag nach Brüssel schicken.

Kein Grund für Optimismus

Doch die Verhandlungen von London mit der EU über den Ausstiegsvertrag kommen nicht voran. Er sehe keinen Grund für Optimismus, dass die EU und Britannien eine Lösung für die umstrittene Ausgestaltung der Grenzkontrollen zwischen Irland und dem britischen Nordirland fänden, sagte EU-Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier gestern in Berlin. sda

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