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Kasachstan

Wo der Kalte Krieg heiss war

Wie fühlt es sich an, da zu stehen, wo die Sowjetunion ihre ersten Atombomben gezündet hat? Das ehemalige Testgelände kann heute unter Begleitung besucht werden. Eine nicht ganz alltägliche Destination. Martina Zürcher und ihr Mann waren dort.

Nicht so idyllisch, wie es scheint: Hier bei Semipalatinsk zündete die UdSSR im Kalten Krieg die Mehrzahl ihrer Test-Atombomben. Bild: Dylan Wickrama
  • Dossier

Martina Zürcher

Wir fahren durch die flache Steppe Nordkasachstans. 630 Kilometer auf der gleichen Strasse. 630 Kilometer Langeweile. Das ist die Distanz zwischen der neuen Hauptstadt Astana – eine Stadt wie das Gelände der Expo.02, so künstlich, so konstruiert – und Semipalatinks, dem ehemaligen Testgelände für atomare Explosionen der Sowjetunion. Genau dahin sind wir unterwegs. Zum Ground Zero Kasachstans, dem Krater, der die während des Kalten Krieges im Durchschnitt einmal pro Monat gezündeten Atombomben hinterlassen haben. Zwischen 1949 und 1989 waren es insgesamt 456 Versuche. Bis zum Verbot im Jahr 1963 alle oberirdisch gezündet, auf einem Gelände, das fast zweimal so gross ist wie der Kanton Bern.

 

Geschlossene Stadt
Das pompöse Einfahrtstor der Stadt trägt in der Mitte stolz ein Atom-Symbol. Herzlich willkommen in Kurchatov! Dem Ort, wo keiner mehr leben will. Von den einst 40'000 Einwohnern sind nur noch 10'000 übrig. Die allermeisten davon Wissenschaftler, die fürs kasachische Institut für Atomenergie tätig sind. Bis vor wenigen Jahren gab es die Stadt offiziell nicht. Sie war weder auf Landkarten noch sonst wo namentlich zu finden. Eine sogenannte geschlossene Stadt, nur eine Postleitzahl, mehr nicht. Keiner, der nicht eine offizielle Erlaubnis der sowjetischen Armee hatte, durfte hierher.

Heute braucht es nur noch fürs Testgelände eine Bewilligung. Die zeigen wir am Eingang der Behörde und werden von Vladim, unserem Übersetzer und Guide, in ein kleines Museum geführt. Hier gibt es die Lunge eines Hundes, der wie andere Tiere den Strahlungen der Testbomben unmittelbar ausgesetzt war, in einer Art grossem Einmachglas. Sie ist deformiert, ebenso wie andere Tier-Embryos. «Ich mag keine Gruselfilme, daher mag ich diesen Teil des Museums nicht», sagt der 27-jährige Vladim und geht schnell weiter. Am 29. August 1949 stach die erste erfolgreiche Explosion in den Himmel. Sie sei heller gewesen als die Sonne und die Schockwelle spürbar bis nach Astana. Wir sind die letzten zwei Tage genau diese Strecke in umgekehrter Richtung gefahren. Die Distanz ist spürbar, die Kraft der Bombe mögen wir uns gar nicht erst ausdenken. Die lokale Bevölkerung sah die eindrücklichen Feuerbälle und Pilzwolken am Himmel, spürte die Druckwelle und die Erschütterung des Bodens. Aber die wirkliche Gefahr? Die blieb ihnen, die nicht wussten, was genau vor sich ging, unsichtbar.

 

Am Abgrund
Als wir zwei Stunden später, nur 60 Kilometer von der Stadt weg, direkt am Krater stehen, ist die atomare Verschmutzung auch hier weder sicht- noch spürbar. Längst hat die Natur ihre Narben geschlossen. Das hellbraune Gras zieht sich unerschrocken über die Steppe dahin, flirrt im Wind, vor dem dunklen, fast violetten Himmel entsteht ein wunderschöner Kontrast. Der Teich ist da entstanden, wo die Abschussrampe stand. Er ist mit sattgrünem Gras umwachsen, Entenfamilien tummeln sich im klaren Wasser. Eine Idylle, wäre da nicht der Mann mit dem Geigerzähler, der vor sich hin piepst und die Plastiküberzieher, die wir nun über die Schuhe stülpen. «Wenn ihr etwas fallen lässt, dann müsst ihr es liegenlassen», werden wir gewarnt, dann setzt Vladim die Atemschutzmasken auf und steigt aus. Wir tun es ihm gleich und versuchen, möglichst nichts zu berühren. Aber der Ort berührt uns.

Hier nahmen die Russen den von den Amerikanern 1945 lancierten Schattenkampf um die Weltherrschaft auf. Hier wurde getestet, wie man auf einen Schlag am effizientesten so viele Menschen wie möglich umbringen kann. Hier zu stehen, treibt uns die Tränen in die Augen und lässt uns mit mehr Fragezeichen als zuvor zurück. Warum tun wir Menschen so etwas? Haben wir seit dem Kalten Krieg irgendwas gelernt? Warum gehören Atomwaffen immer noch in die Waffenarsenale der Grossmächte? Ja, werden teilweise sogar immer noch weiter aufgestockt?

«Seht es doch einfach anders rum: Die Russen haben die Bomben hier gezündet, um im Falle eines Falles möglichst viele Menschenleben zu retten», versucht es Vladim mit einer Aufmunterung.

 

«Wir sind alle normal»
Er hatte uns zuvor erzählt, dass er als Einheimischer zur Kompensation eine Woche mehr Urlaub pro Jahr erhalte. Er sagt aber auch: «Wir sind alle normal. Wir haben zwei Hände und zwei Füsse. Und ich kenne niemanden mit Krebs.» Danach reagiert er gereizt, als wir weiter nachbohren. Sehr wahrscheinlich, weil wir mit unseren Fragen sein ganz persönliches Schicksal berühren.

«Was ist mit den Rädern des Autos, wegen der atomaren Verschmutzung?», fragten wir via E-Mail, bevor wir die Tour buchten. «Geht nachher in die Autowaschanlage», kam es zurück. Die Antwort passt zu dem, was wir heute sahen, als wir ins Testgelände gefahren sind: Keine Kontrollen, keine Checkpoints. Nicht einmal ein Zaun oder eine Signaltafel machen darauf aufmerksam, wo man sich befindet. Wir hätten ebenso gut unwissend über diese Anlage voller Ruinen stolpern können. «Der grösste Teil des Geländes ist sauber und bereits wieder freigegeben», beruhigt Vladim, der nur ein Übersetzer und kein Wissenschaftler ist. Entsprechend gibt er nur weiter, was er selbst einmal gehört hat.

Das eigentliche Experimentierfeld, ein Kreis mit einem Durchmesser von vielleicht 30 Kilometern, war wie ein Kuchen in verschieden Stücke unterteilt. In einem Abschnitt wurden Häuser gebaut, in einem anderen Brücken oder gar U-Bahnstationen, um am Grad der Zerstörung die Effektivität der Bombe zu testen. Von der Brücke sind nur noch zwei Pfeiler übrig geblieben, die U-Bahnstation können wir betreten. «Bis wohin soll ich euch ein Ticket lösen?», scherzt Vladim, bevor wir erneut Plastiküberzieher über unsere Schuhe stülpen, obwohl der Geigerzähler hier nicht ausschlägt. Sicher ist sicher. Es reicht, dass unser Körper mit einem (vom Hirn produzierten) Juckreiz reagiert. Dieses Gefühl können wir am Abend mit einer heissen Dusche beseitigen. Die Gedanken an die tödliche Kraft der Bomben und das kranke Wettrüsten nicht.

Info: Am 25. Oktober gibt es in Biel einen Vortrag zur Reise und zum Leben im Bus. www.ride2xplore.com.

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