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Kinderbetreuung

3.25 Franken pro Stunde und Kind

Tagesmütter tragen viel Verantwortung und verdienen wenig. Der Tageselternverein Biel unterbietet selbst die minimalen Lohnempfehlungen von Kibesuisse.

Tagesmutter Nathalie A.: +Für mich ist es ein Sackgeld, davon leben kannst du nicht." Bild: Franziska Rothenbühler

Lea Stuber

«Es fallen viele versteckte Kosten an. Aber: Sollen die Tageskinder kein Toilettenpapier benutzen, die Hände ohne Seife waschen? Nein. Das geht nicht. Und wenn ich im Sommer meinen Kindern eine zweite Glace erlaube, sage ich dem Tageskind nicht, dass es keine haben dürfe, nur weil die Essensspesen bereits aufgebraucht sind.» Monika B. (40), die Frau, die das sagt, arbeitet in Biel als Tagesmutter.

Natalie A. (49), Tagesmutter in Thun, sagt: «Der Aufwand beschränkt sich nicht auf die Stunden, in denen du betreust. Der zusätzliche Austausch mit den Eltern ist nicht bezahlt. Für mich ist es ein Sackgeld, davon leben kannst du nicht.»

Sina N. (45, Name geändert), Tagesmutter in Bern, sagt: «Um davon leben zu können, müsste man gleichzeitig fünf Kinder ganztags von Montag bis Freitag betreuen. Schon mit den eigenen Kindern zu Hause den Alltag zu bewältigen, bedeutet viel Arbeit. Es ist nicht wie in einer Kita, das Mittagessen wird nicht geliefert, das koche ich. Wenn ich fünf so kleine Kinder gleichzeitig betreuen würde, könnte ich den Qualitätsanspruch, den ich an meine Tätigkeit habe, nicht erfüllen.»

Am Anfang dieser Recherche steht eine Zahl. 3.25 Franken. So viel verdienen Tagesmütter beim Tageselternverein Biel pro Stunde und Kind. Das steht in seinen «Bestimmungen Tagespflege für Tageseltern». Wie kann das sein? Ist ein so tiefer Lohn in der Kinderbetreuung zu Hause bei Privatpersonen normal?

 

Die Freude an der Arbeit

Gespräche mit Tagesmüttern, Organisationen und Expertinnen zeigen das Bild einer Branche, die eine zunehmend gefragte, vor allem auch flexiblere und persönlichere Alternative zur Kinderbetreuung in Kitas oder Tagesschulen bietet, gerade in ländlichen Gebieten. Eine Branche, die von der Öffentlichkeit und der Politik aber kaum beachtet wird. In diesem Schattendasein können die sowieso schon tiefen Lohnempfehlungen unterschritten werden, ohne dass Konsequenzen drohen.

Im Gegensatz zur Betreuung in Kitas ist eine Abgrenzung zwischen professioneller Arbeit und Privatsphäre kaum möglich. Die Tagesmütter, die gleichzeitig maximal fünf Kinder unter zwölf Jahren betreuen dürfen, stellen mit ihrer Privatwohnung die Infrastruktur zur Verfügung.

Und doch, ein wichtiger Punkt: Jede Frau hier macht ihre Arbeit gerne. Sie sprechen von der Freude an der Arbeit mit Kindern, den Freiheiten, die dieser Job ihnen gibt, und der Zeit mit ihren eigenen Kindern.

 

Halb so hoch

Manche, wie Natalie A., sind selbstständige Tagesmütter. Andere sind bei einer Organisation angestellt, die ihre Löhne zahlt und sie versichert – im Kanton Bern sind das etwa 1300 Tagesmütter bei knapp 30 Organisationen, wie es bei der Sozialdirektion heisst. Die Tagesmütter absolvieren eine obligatorische Grundbildung von 30 Stunden und jährlich eine Weiterbildung von mindestens sechs Stunden. Das sind die Mindeststandards vom Branchenverband Kibesuisse, bei dem die meisten Organisationen Mitglied sind. Damit die Eltern nicht die vollen Kosten tragen müssen, werden die Organisationen finanziell unterstützt, im Kanton Bern früher via subventionierte Plätze, neu via Betreuungsgutscheine.

Kibesuisse empfiehlt neben den Mindeststandards einen Stundenansatz von 6.50 bis 7.50 Franken pro Kind und pro drei Jahre Berufserfahrung einen Zuschlag von 30 Rappen. Hinzu kommen Spesen für Mahlzeiten und Übernachtungen. Der Tageselternverein Biel zahlt seinen knapp 30 Tagesmüttern brutto 3.25 Franken pro Stunde und Kind, inklusive Ferienzulage. Hinzu kommen Spesen von 1.50 Franken pro Stunde und Kind.

 

Ein schwankender Zuschlag

Diese 3.25 Franken seien nicht der gesamte Lohn, rechtfertigt sich Jean-Claude Clénin, Präsident vom Tageselternverein Biel. Zweimal im Jahr würde er, wenn es das Jahresbudget zulasse, den Tagesmüttern rückwirkend einen Zuschlag auszahlen. So seien sie in den letzten Jahren auf einen Lohn von mindestens 4.70 Franken pro Stunde und Kind gekommen, im letzten Jahr auf 6.15. Wie dieser jährlich stark wechselnde Wert genau zustande kommt – zumal die Subventionen der Stadt Biel als grösste Einnahme jährlich fix sind –, bleibt aber offen. Clénin betont: «Wir machen keinen Gewinn.»

Die tiefen Löhne begründet Clénin mit den Kosten des Vereins: die Löhne für die zwei Vermittlerinnen, die Sozialabgaben, die Versicherungen. Es sind nicht andere, als sie auch andere Organisationen haben, die höhere Löhne zahlen.

Bei der Stadt Biel, die den Verein in den letzten Jahren – im alten System der subventionierten Plätze – subventioniert hat, scheinen die tiefen Löhne kein Thema zu sein. Diese würden in der Verantwortung des Tageselternvereins liegen, sagt Isabel Althaus, Leiterin Generationen und Quartiere der Stadt Biel.

Neben den Kosten erwähnt Beatrice Käppeli, Vermittlerin des Vereins, die tiefen Einkommen vieler Eltern, gerade von alleinerziehenden Müttern. Viele würden die Rechnungen nicht zahlen, so Käppeli. Das sei der Grund, warum der Tageselternverein Biel den Tarif, den die Eltern bezahlen, nicht höher als bei 9.50 Franken ansetzen könne. Die Tageselternvermittlung Region Thun hat einen vergleichbaren Tarif von 9.49 Franken (ab Januar 9.70), Leolea in Bern liegt etwas höher bei 10.13 Franken (ab Januar 10.50).

Monika B. und Fabienne W. (Name geändert), die auch beim Tageselternverein Biel angestellt ist, bestätigen, zweimal im Jahr einen Zuschlag zu erhalten. Monika B. bezieht Ergänzungsleistungen der Sozialhilfe, deswegen spiele dieses Geld für sie keine grosse Rolle, sie müsse es sowieso der Sozialhilfe abgeben. Zum Lohn möchte sie sich nicht weiter äussern.

Fabienne. W. sagt: «Wenn der Zuschlag kommt, freue ich mich. Manchmal wird er allerdings verspätet ausbezahlt. Für mein Budget rechne ich nicht mit diesem Geld. Die Höhe des Betrages variiert stark, manchmal sind es 40 Rappen pro Stunde, manchmal 50, auch mal 1.50 Franken.»

 

Das Risiko der Tagesmütter

Renate Strahm, Vizepräsidentin von Kibesuisse, sind die tiefen Löhne des Tageselternvereins Biel auch schon zu Ohren gekommen. Sie verbirgt nicht, dass ihr die Praxis missfällt: «Falls rückwirkend gezahlte Zuschläge geleistet werden, minimiert der Tageselternverein Biel auf Kosten der Betreuungspersonen sein Geschäftsrisiko.»

Aus Strahms Sicht wäre der Tageselternverein Biel damit ein Extremfall. Klar sei: Die Löhne von Tagesmüttern sind unterschiedlich hoch, abhängig von der kantonalen Unterstützung. Dazu, wie hoch die tatsächlich ausbezahlten Löhne von Tagesmüttern sind, hat Kibesuisse keine vollständigen, gesicherten Zahlen.

Sina N. ist in Bern bei Leolea angestellt, einer vergleichsweise grossen Institution, die nicht nur Tageseltern vermittelt, sondern auch Kitas betreibt. Pro Stunde und Kind verdient sie brutto 6.70 Franken, inklusive Ferien- und Feiertagsentschädigung, was im Rahmen der Kibesuisse-Empfehlungen liegt. Leiterin Paola Pizzoferrato betont, dass für Tagesmütter – im Gegensatz zu einer Arbeitsstelle ausser Haus – etwa keine Kosten für Mahlzeiten anfielen oder dass die Fremdbetreuung der Kinder wegfalle. «Haushaltsarbeiten können sie während der Arbeit erledigen, denn ein Tageskind soll im Familienalltag integriert werden», sagt Pizzoferrato.

Die Tageselternvermittlung Region Thun, wo die selbstständige Tagesmutter Natalie A. früher angestellt war, bezahlt den Tagesmüttern einen Stundenlohn von 6.20 Franken pro Kind. Auch sie zahlt einen Zuschlag, doch der Grundlohn von 6.20 macht einen deutlich grösseren Anteil aus als in Biel: Mit der Zahlung eines Bonus komme eine Tagesmutter auf durchschnittlich 6.72 Franken pro Stunde und Kind, so Geschäftsleiterin Doris Glogger.

 

Sanktionen nicht möglich

Rechtliche Möglichkeiten, um die Einhaltung der Lohnempfehlungen seiner Mitglieder, wie beim Tageselternverein Biel, durchzusetzen, habe Kibesuisse nicht, sagt Renate Strahm. Die Mitglieder würden via Selbstdeklaration bestätigen, dass sie sich an die Mindeststandards hielten, Sanktionen zu verhängen, sei für einen Verband nicht möglich.

Strahm kritisiert, dass die Politik Tagesfamilienorganisationen neben den Kitas und Tagesschulen vergesse. Von der Anstossfinanzierung des Bundes, dank der bisher mit knapp 400 Millionen Franken über 60 000 zusätzliche Betreuungsplätze geschaffen werden konnten, hätten die Tagesfamilienorganisationen nur «einen Bruchteil» bekommen, sagt Strahm.

Im Gegensatz zu Kitas, die pro neuen Platz und Jahr bis zu 5000 Franken erhalten, können Tagesfamilienorganisationen nur für Weiterbildungen Geld beantragen.

Angela Zihler von der Gewerkschaft VPOD sieht das Problem auch darin, dass in der Kinderbetreuung kein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) und damit keine verbindlichen Mindestlöhne bestehen. In der Herbstsession scheiterte im Grossen Rat des Kantons Bern an der bürgerlichen Mehrheit der Versuch des rot-grünen Ratsflügels, beim neuen System der Betreuungsgutscheine im Gesetz die Einhaltung eines GAV zu verankern.

Im Unterschied zur Kinderbetreuung in den Tagesstätten bietet die private Wohnung der Tagesmutter die Infrastruktur für ihre Arbeit. Wasser, Strom, Abfallsäcke, Putz- und Desinfektionsmittel, Bastelmaterial – spezielle Infrastrukturspesen, die diese Kosten entschädigen würden, bekommen die Tagesmütter nicht.

Sina N. sagt: «Die drei Tageskinder, die gleichzeitig da sind, machen es wahnsinnig gut. Wenn es aber einen Nachmittag lang nur regnet und wir – meine zwei eigenen Kinder sind ja auch noch da – nur kurz rausgehen können, ist das in der Dreieinhalbzimmerwohnung manchmal fast nicht zu ertragen. Eine Zeit lang betreute ich zwei Kleinkinder, die beide einen Mittagsschlaf machten. Sie schliefen in unserem Schlafzimmer, das war für mich schon eher grenzwertig.»

 

Wenig Wertschätzung

Lina Gafner von der Eidgenössischen Kommission dini Mueter (EKdM), die sich als Lobby der Mütter und Kinderbetreuerinnen sieht, erachtet die Lohnverhältnisse für Tagesmütter als symptomatisch dafür, wie wenig die Arbeit mit Kindern in der Schweiz wertgeschätzt werde: «Die Tatsache, dass viele dieser Frauen ihre Arbeit gerne machen, ist kein Argument für schlechte Löhne. In anderen Branchen ist es selbstverständlich, dass motivierte Leute, die einen guten Job machen, einen guten Lohn erhalten.» Gafner fordert, dass die öffentliche Hand grundsätzlich mehr Geld in die Kinderbetreuung steckt.

Für Renate Strahm von Kibesuisse müsste dies auch heissen, dass für die Tagesfamilienbetreuung gleich hohe Subventionen gesprochen werden wie für die Kitas. So könnte etwa das Zur-Verfügung-Stellen der Infrastruktur besser entschädigt werden. Denn eines ist klar: Höhere Löhne alleine lösen nicht alle Probleme, mit welchen die Tagesmütter sich auseinandersetzen müssen.

Natalie A. sagt: «Manche Eltern legen Wert auf Manieren, andere nicht. Soll ich dem Kind also Manieren beibringen? Oder nicht? Im Grundkurs des Tageselternvereins wurden wir einigermassen auf auftauchende Probleme ‹vorbereitet›. Wie wir damit umgehen, müssen wir oft selber schauen.»

Monika B. sagt: «Kein Kind soll sich benachteiligt fühlen, auch nicht die eigenen, es ist ja ihr Zuhause, es sind ihre Spielsachen. Ich versuche eine klare Linie zu fahren, aber in der Gruppe kann es Spannungen geben. Es ist nicht immer nur schön, nur zu Hause zu sein.»

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