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Amazonas-Riff

«Alle kriegen ihr Fett weg»

Während die Wissenschafter das Riff unter schwierigen Bedingungen erforschen, gibt es auf der Esperanza einen Notfall: Zwei Schlauchbooten geht auf hoher See das Benzin aus. Sofort wird eine Rettungsaktion organisiert. Später wird harsche Kritik laut.

Anspruchsvoll: Das Forschungsschiff Esperanza bei Wellen und über zwei Knoten Strömung an Ort zu halten, ist kaum möglich. Bild: zvg
  • Dossier

Tagebuch: Jérôme Tschudi


Donnerstag, 12. April
«Funkmeldung: Eines der beiden Schlauchboote hat einen Motorschaden und wird vom anderen geschleppt, dessen Treibstoff dadurch langsam zur Neige geht. Distanz zum Mutterschiff: 18 Seemeilen. Das ist eine Notfallsituation. Wir wassern zwei Schlauchboote, bestücken sie mit Proviant, Trinkwasser und Reservetanks. Vier Crewmitglieder brechen auf, um den Kollegen zu helfen. Die Esperanza ist soweit in ihre Richtung gefahren wie möglich. Die Wassertiefe beträgt nur noch 6,5 Meter, der Tiefgang des Schiffes 5 Meter; weiterzufahren ist zu gefährlich.

Während wir den Fortschritt der Rettungsaktion am Radar verfolgen, erzählt mir Ronaldo Filho, der Chef der Wissenschaftler, wie er einmal gerettet wurde. Bei einem Tauchgang in der Karibik wurde er und zwei Kollegen von der Strömung acht Meilen vom Begleitschiff abgetrieben. Beim Auftauchen waren sie allein auf hoher See. Dass sie vom Rettungsflugzeug aus tatsächlich lokalisiert wurden, grenzt an ein Wunder: Drei Männer in schwarzen Neoprenanzügen auf hoher See sind praktisch unsichtbar. Dank abgeworfenen Rauchbomben fand das Begleitschiff die Taucher und nahm sie an Bord. Sie waren dehydriert und halluzinierten. Nach einer Nacht im Spital erholten sie sich aber komplett.

Dann erzählt mir Ronaldo von der schwierigen Arbeit der Umweltschützer in Brasilien. Auch ihm würden regelmässig hohe Geldsummen angeboten, damit er seine Forschungsarbeiten stoppe. Morddrohungen seien keine Seltenheit. Er denkt, dass er dank seinen Beziehungen zur Regierung bisher geschont wurde. In Brasilien würden Umweltschützer aber zu Hunderten ermordet.

Die Schlauchboote kommen wegen der Strömung nur eine Meile pro Stunde voran und erreichen die Esperanza um Mitternacht. Nahtlos trete ich meine Wache an.


Freitag: Harsche Kritik
Die Rettungsaktion hat Fragen aufgeworfen. Die Besprechung findet am Abend bei versammelter Crew auf dem Achterdeck statt. Alle können sich frei äussern. Es wird kritisiert, dass zu wenig kommuniziert wurde. Auf der Esperanza wusste niemand, dass bei einem Boot die Schraube aus einem Fischernetz befreit werden musste. Vom Abschleppen des Schlauchbootes erfuhr man auf dem Mutterschiff erst, als das Benzin auszugehen drohte. Auf den vier Booten übernahm niemand die Führungsverantwortung und ein Nachteinsatz war nicht eingeplant worden. Im Gewitter wurde die Crew tropfnass und hatte bei auffrischendem Wind selbst in den Tropen empfindlich kalt.

Die Kritikpunkte werden aufgelistet, besprochen und der Erste Offizier fasst die daraus abzuleitenden Massnahmen zusammen. Die Diskussion ist sachlich, aber alle kriegen ihr Fett weg und die Emotionen legen sich. Der Feierabend kann nun beginnen.


Samstag: Bodenproben
Die Forschungsarbeit ist nun voll angelaufen: Wir fahren die Planquadrate ab, in deren Bereich Probebohrungen bewilligt wurden und deren Untergrund wir mit dem Sonar analysieren konnten. Die starke Strömung verbietet den Einsatz des Tauchroboters. Dagegen funktioniert die Entnahme von Bodenproben. Hierfür wird ein Chromstahlgerät eingesetzt, das sehr schwer ist. Schlägt es auf dem Meeresgrund auf, löst dies den Verschlussmechanismus aus, und eine Art Baggerschaufel schnappt sich eine Probe, die sie sicher einschliesst.

Fabio hängt seine Go-Pro-Kamera in wasserdichter Hülle an das Halteseil des Geräts. Die Hülle bleibt bis 110 Meter Tiefe wasserdicht. Die Kamera filmt den Aufprall am Meeresgrund. Man sieht, wie die Strömung die Sandwolke wegtreibt. Mit jeder Welle wird das Gerät vom Meeresboden angehoben und schwebt dann einige Meter weiter, bevor es wieder am Boden aufprallt und eine neue Sandwolke auslöst. Infolge der Strömung ist die Sicht immer optimal.

Die 35-jährige Usnea ist ein Energiebündel aus den USA. Sie ist Pädagogin für Behinderte, arbeitet jedoch seit Jahren als Aktivistin für Greenpeace. «Us» nutzt jede freie Minute für ihr Krafttraining. So «läuft» sie etwa im Handstand über das schwankende Deck oder macht Übungen an einer an der Decke des Achterdecks montierten Stange. Sie möchte gerne längere als dreimonatige Einsätze fahren, sagte aber, dass ihr Freund das nicht mitmachen würde.


Sonntag: Ruhetag
Auf meiner Wache spielt der Offizier Musikstücke ab, meist zur Unkenntlichkeit verzerrte Coverversionen bekannter und erfolgreicher Songs. Er findet diese Musik sehr schön, ich sage nichts. Überhaupt habe ich auf der Esperanza kaum mir bekannte Musikstücke gehört, geschweige denn solche, die mir gefallen würden. An der Musik spüre ich den Generationenunterschied am meisten. Der Ruhetag wird eingehalten, es arbeiten nur die Wissenschaftler und Campaigner und die Küchenmannschaft.


Montag: Markierungsbojen
Tagtraum auf der Hundewache. Die Forschungsbedingungen am Amazonas-Riff sind anspruchsvoll. Vor allem der meist über zwei Knoten starke Strom macht der Esperanza zu schaffen, die sich kaum an Ort halten lässt. Vorausgesetzt, dass sich Greenpeace vermehrt in der Meeresforschung engagieren will, indem sie unabhängige Forschergruppen unterstützt, diskutieren der Offizier und ich über einen Kauf oder Charter eines «Diving Support Vessel».

Im Internet finden sich mehrere Occasionen in verschiedenen Preisklassen. Diese sind so ausgestattet, dass sie Unterwasserarbeiten zwischen 400 bis 1000 Meter erlauben. Sie sind in der Grösse der Esperanza und verfügen über bis zu 80 Kojen, einen Helikopterlandeplatz und ein Schwimmbad. Der Knackpunkt ist die Finanzierung: Die Esperanza ist gut im Schuss und gut ausgestattet: Sie dürfte sich also gut verkaufen lassen. Greenpeace könnte Firmen und Staaten unabhängige Umweltverträglichkeitsprüfungen anbieten und würde dadurch neue Standards setzen. Sie könnte ausserdem «Kreuzfahrten » anbieten für grosszügige Spender aber auch für Touristen, die die Atmosphäre und die Forschungsarbeiten hautnah miterleben möchten.

Mit den Sonaren haben wir eine mehrere Meilen lange Steilwand am Meeresgrund entdeckt. Steilwände im Meer sind in der Regel Orte mit erhöhter Biodiversität, weil dort die Tiefsee und der Kontinentalsockel zusammentreffen. Wir versenken drei Reusen, mit denen für genetische Untersuchungen Fische gefangen werden sollen. Sind die Reusen im Wasser, wird eine Markierungsboje mit einem orangen Fähnchen geworfen. Das Fähnchen liegt aber bloss im Wasser. Als es sich dann aufrichtet, ertönen ermutigende Ausrufe an Deck und als es dann stabil im Wind weht, wird gepfiffen und geklatscht.


Dienstag: Kaffeespielchen
Unsere Diskussion auf der Wache hat Wellen geschlagen. Der Kapitän war von einem erst vier Jahre alten, gut ausgerüsteten, online angebotene Schiff mit 60 Kojen besonders angetan und hat es dem Greenpeace-Hauptsitz gemeldet. Die Esperanza kommt jedoch frisch zertifiziert aus dem Trockendock, wo sie umfassend revidiert wurde. Das Zertifikat ist jeweils für fünf Jahre gültig. Das Evaluationsverfahren für einen Ersatzkauf soll 2019 beginnen, der Kauf oder Neubau ist für 2021 geplant. Das neue Schiff sollte weniger Treibstoff verbrauchen als die Esperanza, was von Occasionen nicht erwartet werden kann und einen elektrischen Antrieb voraussetzt. Affaire à suivre.

Wir stellen konsterniert fest, dass die Reusen von der Strömung mitgerissen wurden. Nach vier Stunden erfolgloser Suche müssen wir klein beigeben; wirklich enttäuschend.
Als ich kürzlich auf die Brücke kam, hat mich einer der wachhabenden Offiziere gebeten, ihm einen Kaffee zu bringen und die leeren Tassen mitzunehmen. Ich war etwas erstaunt, ist es doch sonst üblich, dass jeder sein Geschirr selber abwäscht und seinen Kaffee holt. Ich tat aber wie geheissen. Grölendes Lachen bei meinen Kollegen, die nur auf meine Rückkehr gewartet hatten. Sie alle kennen das Spielchen.
 

Mittwoch, 18. April
Greenpeace hat gestern bekannt gegeben, dass wir dort ein einzigartiges, schützenswertes Riff gefunden haben, wo der Konzern Total nach Öl bohren will (siehe Zweittext). Das Medienecho war weltweit gewaltig: 187 Zeitungen haben darüber berichtet. An Bord wird dies mit Begeisterung aufgenommen. Das tröstet über die täglichen Schwierigkeiten unserer Forschungsarbeit hinweg. Am Abend gibts ein Barbecue auf dem Achterdeck. Wir feiern die Medienmitteilung und den Geburtstag unseres Kapitäns in einem.

Nun arbeiten wir daran, herauszufinden, wie weit das Riff in die geplanten Bohrfelder hineinreicht. Für uns bedeutet das, intensive pausenlose Arbeit mit Bodenproben, Unterwasserkamera, und Wasserproben. Gemäss Ronaldo Filho scheint das Amazonas-Riff wesentlich grösser zu sein, als bisher angenommen. Er vermutet, dass es bis nach Französisch-Guyana reicht, was bedeuten würde, dass es sich nicht mehr um eine rein brasilianische Angelegenheit handeln könnte.» Bearbeitung: pst

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Brasiliens Bohrgenehmigung steht noch aus

Das Korallenriff vor der brasilianischen Küste rage in ein Gebiet, in dem der Erdölriese Total Bohrungen plane, schrieb Greenpeace diese Woche in einer weltweit verbreiteten Medienmitteilung. Das 2016 entdeckte Korallenriff sei grösser als bislang bekannt. Die brasilianische Regierung dürfe Total deswegen keine Bohrlizenz erteilen. Die Umweltverträglichkeitsstudie des französischen Konzerns, der zufolge das Riff mindestens acht Kilometer von den geplanten Bohrstellen entfernt liege, sei hinfällig. Der Energiekonzern will vor der Amazonasmündung, rund 120 Kilometer vor der brasilianischen Küste, Erdöl fördern. Die Bohrgenehmigung der brasilianischen Umweltschutzbehörden steht noch aus.

Die bei der aktuellen Expedition (siehe Tagebuch von Jérôme Tschudi) entdeckte Verlängerung des Korallenriffs besteht nach Angaben von Greenpeace aus kalkhaltigen Algen, die einen Lebensraum für verschiedene Tiere bilden.
«Herauszufinden, dass das Amazonas-Riff grösser ist als erwartet, war einer der aufregendsten Momente meiner Forschung über dieses Ökosystem», sagte der Meeresexperte Fabiano Thompson von der Bundesuniversität Rio de Janeiro. «Wir wissen noch so wenig über dieses neue Ökosystem. Unser bisheriges Wissen deutet darauf hin, dass Ölbohrungen dieses einzigartige System schwer beschädigen könnten.» mt

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