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Biel

«Als Kind wünschte ich mir eine Zeit lang, weiss zu werden»

Die meisten sprechen Jérémie Jolo Hochdeutsch an, und manche bleiben auch dabei, obwohl er Bärndütsch spricht. Sein Leben sei von Rassismus geprägt, sagt der gebürtige Bieler, der Klarinette studiert hat und Märsche liebt.

Im Café Brésil am Bieler Bahnhofplatz ist Jérémie Jolo oft und gerne Gast. Barbara Héritier
  • Dossier
Aufgezeichnet: Beat Kuhn
 
Das Café Brésil am Bieler Bahnhofplatz habe ich als Fotohintergrund gewählt, weil ich dort oft hingehe und gerne verweile. Beim gemütlichen Kaffeetrinken fühle ich mich frei und komme zur Ruhe. Dort lese ich oder schreibe meine Gedanken nieder. Manchmal ergeben sich auch Diskussionen mit anderen Gästen, die sind immer interessant und bereichernd. Meistens geht das Gespräch von jemand anderem aus, und da ich sehr interessiert bin und zurückfrage, entspinnt sich ein Dialog. 
 
Väterlicherseits habe ich Wurzeln in Guadeloupe, einer kleinen Insel in der Karibik, die zu Frankreich gehört, mütterlicherlicherseits in der Schweiz. Geboren bin ich vor 32 Jahren in Biel und habe den Schweizer Pass. Von meinen Eltern habe ich sowohl ein gewisses Temperament als auch schweizerische Zurückhaltung mitbekommen. 
 
In Biel fallen Schwarze ja nicht gross auf, weil ihr Anteil an der Bevölkerung überdurchschnittlich hoch ist. Trotzdem muss ich leider sagen, dass mein bisheriges Leben stark von Rassismus und Diskriminierung geprägt war. Das fing schon in der Kindheit an, in der man stark auf die Hautfarbe reduziert wird. Ein Kind schlüpft ja quasi aus dem Ei und schaut mal um sich. Man merkt erst gar nicht, dass man anders ist als die andern. Das passiert erst durch Erfahrungen, die man mit anderen macht, zum Beispiel, indem man gebeten wird, mal von seinem Land zu erzählen. Dann denkt man erst, das ist doch die Schweiz mit ihren Bergen und ihrem Käse. Ah, aber da ist ja noch mein Vater, und der sieht ganz anders aus und kommt von ganz weit her. Auch wenn man wie ich kaum einen kulturellen Bezug zur Karibik hat, ist man darum wie zwischen Stuhl und Bank.
 
Solche Erfahrungen in der Kindheit haben mich sehr geschmerzt, und ich weiss noch, dass ich mir als Kind eine Zeit lang wünschte, weiss zu werden. Michael Jackson wurde mit den Jahren ja immer heller, also nahm ich an, dass auch er sich dies an Weihnachten gewünscht und den Wunsch erfüllt bekommen hat. Dass bei ihm eine Hautkrankheit der Grund war, wusste ich damals nicht. Heute bin ich allerdings sehr froh, dass ich meinen Wunsch ausserhalb der Bürozeiten des Christkindes geäussert habe.
 
Als Erwachsener stelle ich etwas fest, das ich Mikroaggression nenne. Die äussert sich zum Beispiel so, dass ich meistens auf Hochdeutsch angesprochen werde, weil man automatisch annimmt, ich sei ein Fremder, der noch nicht so lange in der Schweiz ist. Es wird auch betont langsam gesprochen, damit ich als vermeintlich schlechtintegrierter Ausländer alles verstehe. Beim Hochdeutsch bleiben manche auch, obwohl ich Bärndütsch mit ihnen spreche.
 
In solchen Fällen habe ich mir schon den Spass erlaubt, zurückzufragen, aus welchem Land denn mein Gesprächspartner komme, man höre gar keinen Akzent, so gut Hochdeutsch spreche er. Offensichtlich wirkt das Optische viel stärker als das, was man hört. Grundsätzlich ist mein breites Berndeutsch allerdings meine beste Waffe gegen Rassismus, wie ich gemerkt habe. Wenn man diesen Dialekt hat, lösen sich Vorurteile häufig durch blosses Reden auf. Ab und zu werde ich auf Portugiesisch angesprochen, weil man meint, ich sei Brasilianer.
 
Auch in der Musikerszene, zu der ich gehöre, gibt es Vorurteile. So habe ich schon oft zu hören bekommen, dass ich sicher sehr gut Jazz spielen würde und wohl Saxofonist sei. Ich bin aber Klarinettist und habe eine klassische Ausbildung gemacht. Zeitweise hatte ich eine richtige Aversion gegen Jazz, weil ich nicht einem Vorurteil entsprechen wollte. Heute habe ich eine unverkrampfte Beziehung dazu, ja, ich liebe ihn.
2017 wurde ich gebeten, mich als Dirigent der beiden Musikgesellschaften Bellmund und Sutz-Lattrigen zu bewerben – und wurde genommen. Organisatorisch sind diese noch je ein eigener Verein, aber musikalisch bilden sie eine Spielgemeinschaft, sie proben zusammen und treten gemeinsam auf. Die Musikgesellschaft Sutz-Lattrigen hat letztes Jahr ihr 100-Jahr-Jubiläum feiern können.
 
Ich weiss, Blasmusikvereine sind etwas Urschweizerisches, sehr Traditionelles. So war ich innerlich auf einiges gefasst, als ich dort anfing. Ich nahm mir vor, die Gelegenheit zu nutzen, Vorurteile, die mir begegnen würden, aus der Welt zu schaffen. Und ich bin ja nicht nur schwarz, sondern auch noch besonders gross.
 
Die Musikerinnen und Musiker sind mir allerdings von Anfang an mit Offenheit begegnet, was sicher auch daran lag, dass mich einige schon kannten. Und das Übrige hat die Musik bewirkt. Die ist sowieso etwas, was Menschen verbindet – vielleicht, weil man da mehr hört, als schaut. An musikalischen Wettbewerben habe ich allerdings schon Bemerkungen aus anderen Musikgruppen aufgeschnappt wie «he he, das ist unser eigenes Fest!», also unser schweizerisches Fest.
 
Letztes Jahr habe ich als Dirigent aufgehört, weil ich Ende 2020 mein Studium in Logopädie abgeschlossen und eine Stelle gefunden habe – beziehungsweise zwei: In Lyss habe ich ein Pensum an der heilpädagogischen Schule und in Biel eines am Primar- und Oberstufenzentrum Sahligut. Das Dirigieren war für mich ein guter Studentenjob, der mir während des Logopädiestudiums einen willkommenen finanziellen Zustupf gab. Aber es ist mir zu viel geworden. Denn es wird an zwei Abenden pro Woche geprobt, und Konzerte gibt es bis zu zehn im Jahr. Die vielen Proben fordern auch den Musikerinnen und Musikern viel ab. Dafür gehen sie dann selbstbewusster an die Konzerte. Unser traditionelles Winterkonzert im Februar haben wir 2020 kurz vor Beginn des Lockdowns Mitte März noch abhalten können. Das letztjährige ist dann aber Corona zum Opfer gefallen, und dieses Jahr sieht es wegen Omikron auch nicht gut aus. 
 
Angefangen hat meine Liebe zur Musik mit dem Blockflötenunterricht in der Primarschule. Den fand ich einfach toll. Zur klassischen Musik gefunden habe ich, als das Stadttheater an unserer Schule Kinder anfragte, ob sie bei den Aufführungen von «Carmen» und «La Bohème» mitsingen wollten. Damals ist mir im Orchester die Klarinette aufgefallen. Und später kam einmal die Stadtmusik Biel in die Schule und stellte ihre Instrumente vor. Das hat sein Übriges getan, dass ich angefangen habe, Klarinettenunterricht zu nehmen.
 
Es war immer schon mein Traum, bei der Schweizer Armee Musik zumachen, auch weil mir Märsche eigentlich gut gefallen. Schon im Alter von 15 Jahren absolvierte ich einen entsprechenden Vorkurs, und als nach der Matur die Rekrutenschule anstand, machte ich die Aufnahmeprüfung für die Militärmusik-RS, die ich bestand. Die RS habe ich beim symphonischen Blasorchester des Armeespiels gemacht, wie die Formation offiziell heisst. Erst macht man da wie alle Rekrutinnen und Rekruten die militärische Grundausbildung, einschliesslich des Erwerbs von Sanitäter-Kenntnissen. Danach wird bei dieser Truppengattung geprobt und es werden Konzerte gegeben. 
 
Bei meinem Berufswunsch, Musiker zu werden, haben mich meine Eltern immer unterstützt. Mit 25 Jahren habe ich an der Zürcher Hochschule der Künste den Master als klassischer Klarinettist gemacht. Anschliessend fing ich mit der Ausbildung zum Musiklehrer an einer Kantonsschule an, brach diese aber ab. Als ich das meinen Eltern eröffnete, fügte ich gleich an, dass ich bereits wüsste, was ich stattdessen werden wolle, nämlich Logopäde. Da waren sie sichtlich erleichtert, dass der Sohn endlich «etwas Vernünftiges» macht. Eine Zeit lang habe ich Klarinettenunterricht gegeben. Genügend Schülerinnen und Schüler habe ich zwar gefunden, aber die waren auf verschiedene Städte verteilt, was einen hohen Zeit- und Kostenaufwand bedeutet. So habe ich bald wieder damit aufgehört.
 
Auf Eis gelegt ist derzeit coronabedingt das Klarinettenprojekt Seeland, bei dem ich mich auch engagiere. Das ist ein Ensemble mit Hobbyklarinettistinnen und -klarinettisten aus Formationen in der Region. Mal sind mehr, mal weniger dabei, aber man kann sagen, dass ihm im Durchschnitt 15 bis 20 Personen angehören. Dort mitzumachen ist eine Mischung aus Weiterbildung und einer anderen Art zusammen Musik zu machen, als sonst. Weiterhin mache ich auf Anfrage Soloauftritte an Firmenanlässen, Abdankungen oder Hochzeitsfeiern. Ganz von der Musik abwenden werde ich mich sicher nie. Sie war stets ein Teil meines Lebens und wird es auch immer bleiben. 

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