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Justiz 

Anwalt hinterging Frau im Rollstuhl

Ein Rechtsanwalt aus der Region Biel hat ohne das Einverständnis seiner Klientin einen Vertrag abgeschlossen. Die hohe Versicherungssumme landete auf seinem Privatkonto.

Ein Anwalt aus der Region Biel hat einen Vertrag ohne Zustimmung der Klientin unterschrieben. Jetzt ermittelt die Justiz. Symbolbild: Pixabay

Hans Ulrich Schaad

Der Präsident der Bernischen Anwaltsaufsicht hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden. Er schrieb in seiner Verfügung von Ende März von einer so krassen Verletzung der Standespflichten, dass es schwierig sei, sich ein noch extremeres Beispiel vorzustellen. Deshalb erteilte der Präsident der Aufsicht einem Anwalt aus der Region Biel ein provisorisches Berufsausübungsverbot. Gleichzeitig eröffnete er das ordentliche Disziplinarverfahren.

Knapp fünf Monate später fiel der Entscheid in diesem Verfahren. Das Ergebnis war dasselbe: Der Rechtsanwalt erhält ein definitives Berufsverbot. Bei einem so ausserordentlichen Fall würde keine andere Sanktion in Betracht kommen. «Er hat seine Klientin auf der ganzen Linie im Stich gelassen», heisst es im Urteil. Statt ihre Interessen zu verteidigen, habe er auf seinen eigenen Profit geschaut.

Ein Verweis, eine Busse oder nur ein befristetes Berufsverbot würden dieser gravierenden Verfehlung nicht gerecht, heisst es im auf Französisch verfassten Entscheid. Zum Berufsverbot kommt noch eine Busse von 10 000 Franken. Das Berufsverbot gegen den Anwalt ist nicht rechtskräftig. Er hat den Entscheid ans Verwaltungsgericht weitergezogen.

Gegen Willen der Klientin unterschrieben

Was war passiert, dass die Anwaltsaufsicht diese drastische Sanktion ausgesprochen hat? Die Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsdelikte hatte das Disziplinarverfahren im Februar ins Rollen gebracht. Sie war aktiv geworden, nachdem eine Frau den Anwalt angezeigt hatte. Er hatte sie im Rahmen eines Haftpflichtfalls in den letzten vier Jahren hintergangen und eine hohe Versicherungssumme in die eigene Tasche gesteckt.

Im Entscheid der Anwaltsaufsicht ist der Ablauf detailliert beschrieben. Er stützt sich auf die Akten der laufenden Strafuntersuchung. Im Verfahren vor der Aufsicht hat der Anwalt zu diesen Vorwürfen nie Stellung bezogen und sie nicht in Abrede gestellt.

Die Klientin ist seit einem Verkehrsunfall 2004 querschnittgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie hatte den Anwalt mit einer Vollmacht mandatiert, mit der Haftpflichtversicherung des unfallverursachenden Automobilisten zu verhandeln. Ende 2016 lag schliesslich ein Vorschlag der Versicherung vor, die ihr 610 000 Franken anbot. In einem Gespräch sagte die Frau ihrem Anwalt, dass sie dieses Angebot der Versicherung ablehne.

Die Frau wurde immer wieder vertröstet

In den folgenden dreieinhalb Jahren versuchte die Frau, immer wieder von ihrem Anwalt zu erfahren, wie der Stand der Verhandlungen mit der Versicherung sei. Dieser vertröstete seine Klientin jeweils, dass er hart an einem neuen Vorschlag arbeite. Der Mann gab sich als Fachanwalt für Haftpflicht- und Versicherungsrecht aus.

Der Anwalt war während dieser Zeit nur schwer erreichbar. Auch eine Mitarbeiterin der Paraplegiker-Vereinigung, welche die Frau zur Unterstützung herbeigezogen hatte, biss auf Granit und kam nicht weiter. Der Anwalt gab immer neue Fristen an, bis ein neuer Vorschlag der Versicherung vorliege. Er hielt sich auch nicht an Termine für Besprechungen.

Direkt bei Versicherung nachgefragt

Im Juni 2020 – der Anwalt hatte erneut eine Frist verstreichen lassen – rief die Frau direkt bei der Versicherung an und erfuhr, dass ihr Anwalt die Vereinbarung Ende 2016 trotz ihres Neins unterschrieben hatte und sich die Versicherungssumme auf ein Privatkonto überweisen hatte lassen. Dazu vergütete die Versicherung noch ein stattliches Anwaltshonorar von insgesamt über 100 000 Franken. Über diese Bezüge hatte er mit seiner Klientin offenbar nie gesprochen.

Die Frau glaubte zuerst an einen Witz und fühlte sich im falschen Film, wie sie später dem Staatsanwalt für Wirtschaftsdelikte zu Protokoll gab. Bis sie die vom Anwalt unterschriebene Vereinbarung mit eigenen Augen gesehen habe. Sie sitze seit nunmehr 17 Jahren im Rollstuhl und wolle endlich ein neues Kapitel aufschlagen. Und nun das, völlig absurd: «Der Anwalt hat mein Geld genommen.» Sie sei am Boden zerstört. Persönlich hoffe sie, dass dieser Mann nie mehr für die Justiz arbeiten dürfe.

Die über 600 000 Franken landeten auf einem Privatkonto, das zu diesem Zeitpunkt einen Saldo von 2.59 Franken aufwies. Praktisch die gesamte Summe war innerhalb von wenigen Wochen wieder weg. Gemäss den Bankauszügen floss das Geld zugunsten des Anwalts und zu jenen von Dritten. Vieles deute darauf hin, dass er zu diesem Zeitpunkt Geld benötigte, folgert die Anwaltsaufsicht.

Nicht das erste Mal negativ aufgefallen

Der Anwalt hat alles andere als eine weisse Weste. Das hat die Aufsicht bei ihrem Entscheid mitberücksichtigt. So arbeitete er auch als Notar. Auf die Ausübung dieser Tätigkeit «verzichtete» er Ende 2020 und wurde aus dem Register gelöscht, wie dem Amtsblatt des Kantons Bern zu entnehmen war.

Dieser Schritt erfolgte wohl unter Druck. Denn auch bei der Tätigkeit als Notar ist der Bieler negativ aufgefallen. Verschiedene Klienten haben ihn bei der Notariatsaufsicht angezeigt, und die Revision der Buchhaltung seiner Kanzlei verzögerte sich. Im Dezember 2020 führte eine Meldung der Notariatsaufsicht zu strittigen Liegenschaftsgeschäften schliesslich zur Eröffnung einer weiteren Strafuntersuchung der Staatsanwaltschaft. Mehrere private und geschäftliche Konten von ihm wurden gesperrt.

Der Mann ist zudem im Januar 2020 zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt worden, weil er Alimente nicht gezahlt hatte. Er kam diesen Pflichten 2017 nicht nach, ­obwohl er kurz vorher die Versicherungssumme überwiesen erhalten hatte, wie die Aufsichtsbehörde anmerkt.

Einen Monat in Untersuchungshaft

Weiter wurde der Mann wegen eines groben Verkehrsdelikts kurzzeitig verhaftet. Das machte sowohl im Büro als auch bei einer Regionalbank die Runde. Er demissionierte in der Folge als deren Verwaltungsratspräsident. Schliesslich interveniert die Meldestelle für Geldwäscherei wegen einer zweifelhaften Überweisung. Zu all diesen im Raum stehenden Vorwürfen hat der Bieler gegenüber dem Staatsanwalt keine Stellung genommen.

All diese Vorfälle führten dazu, dass die Staatsanwaltschaft den Mann im Fahndungssystem Ripol ausschrieb. Er ­wurde am 11. Februar 2021 am Flughafen Genf kurz vor der Ausreise festgenommen. Im Handgepäck waren unter anderem ein Beil und ein Multifunktionswerkzeug mit Säge. Der Anwalt verbrachte einen Monat in Haft, bevor er unter Auflagen freigelassen wurde.

Die Strafuntersuchung der Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsdelikte zu den verschiedenen Vorwürfen läuft noch und dürfte nicht mehr in diesem Jahr abgeschlossen werden, wie es auf Anfrage heisst. Der Anwalt war für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Es gilt die Unschuldsvermutung.

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