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Abo

Nez Rouge

Ausgehen, Feiern, Trinken - und dann?

Auch dieses Jahr werden über die Feiertage freiwillige Helfer wieder tausende Automobilisten heimfahren. Wer müde ist, Medikamente oder Alkohol und andere Drogen konsumiert hat, kann den Gratisdienst von Nez Rouge nutzen. Die Aktion versteht sich als «konkrete Massnahme mit symbolischem Charakter».

Pro

Sinnvolle Hilfe zum Selbstschutz

Fabian Maienfisch, Redaktor Region

U m es vorwegzunehmen: Nez Rouge ist mit Bestimmtheit kein Gratis-Service für geizige Weihnachtssäufer. Im Gegenteil, Betrunkene sind nur ein Teil der Klientel dieser Freiwilligenorganisation, die sich der Unfallverhütung verschrieben hat. Der Transportdienst ist auch für Menschen gedacht, die sich zum Fahren zu müde fühlen oder Angst vor vereisten und verschneiten Strassen haben. Ich selber, das muss ich zugeben, gehörte bei meinem Erlebnis mit Nez Rouge nicht zu den letzteren beiden Kategorien. Trotzdem, hier meine Geschichte: Vor ziemlich genau einem Jahr wurde ich von der Nez Rouge gerettet. Ich war zu einem Weihnachts-Apéro in Biel eingeladen. Gleich nach Feierabend trafen sich die Kollegen aus dem Büro, um auf das vergangene Jahr anzustossen. Dass ich mit dem Auto in Biel war, daran hatte ich schlicht nicht mehr gedacht. Ich wollte den Wagen in Biel stehen lassen, doch der Zug war mir just vor der Nase abgefahren. Was früher ein Kavaliersdelikt war, ist heute schlicht unverantwortlich. Mit Alkohol im Blut nach Hause fahren geht gar nicht. Aber einige von Ihnen, liebe Leser, kennen diese Situation bestimmt. Oft fühlen sich Angetrunkene längst noch fahrtüchtig (auch wenn sie es längst nicht mehr sind). Verlockend liegt der Autoschlüssel in der Tasche, und das Auto parkt wenige Meter entfernt. Nez Rouge ist nicht einfach ein Fahrdienst. Nein, sie schützt Menschen in schwachen Situationen – und die haben wir alle – vor sich selber. Nez Rouge bewahrt sich selbst überschätzende Leute davor, Dummheiten zu begehen, sich selber und andere in Gefahr zu bringen. Wie viele tödliche Unfälle passieren jede Weihnachtszeit, weil niemand da ist, der eine Alternative zum selber fahren bietet? Definitiv zu viele. Dank Nez Rouge aber immerhin einige weniger. Übrigens gibt es noch einen weiteren Grund, Nez Rouge zu benutzen. Die Trinkgelder werden gesammelt und an eine gemeinnützige Organisation gespendet.

Contra

Der falsche Anreiz

Tobias Graden, Ressortleiter Wirtschaft

Um es vorwegzunehmen: Ich will hier niemandem das Feiern an Feiertagen ausreden. Ich bin kein Abstinenzler, beim Satz «Man kann auch ohne Alkohol lustig sein» zucke ich mit den Schultern und denke: Kann man sicherlich, es geht aber auch mit.

Es sei auch noch ein zweiter Punkt vorausgeschickt: Der Vorsatz, Unfälle im Strassenverkehr zu verhüten und mit einer Präventions- und Sensibilisierungskampagne zur Förderung der Verkehrssicherheit beizutragen, ist ehrenvoll und löblich. Wenn sich ein Betrunkener an Silvester auf den Beifahrersitz statt ans Steuer setzt, so mindert dies die Unfallgefahr, zweifellos.

Höchst fraglich ist dagegen der Präventions- und Sensibilisierungseffekt. In der Schweiz existiert Nez Rouge seit 1993, eine Viertelmillion Menschen haben den Dienst seither genutzt, jedes Jahr erscheinen um 1300 Zeitungsartikel dazu. Welche Botschaft dabei haften bleibt? Sie lautet: Mach Dir keine Gedanken um Deinen Alkoholkonsum oder den öV-Fahrplan, über die Feiertage fahren wir Dich und Dein Auto bequem heim, und zwar gratis.

Wo bleibt die Eigenverantwortung? Das Angebot von Nez Rouge setzt den falschen Anreiz. Belohnt wird nicht, wer sich von Anfang an verantwortungsvoll zeigt, das Auto gleich zuhause lässt (oder schon gar keines besitzt) und für den Heimweg ein Taxi zahlt – belohnt wird, wer unbedacht handelt, zu viel trinkt und sich schliesslich entfernt erinnert... Moment... da war doch noch was... das oft mit Abstand teuerste Konsumgut im Durchschnittshaushalt, neben der Miete der höchste Posten im Budget... Genau! Ich habe ja ein Auto!

«Missbrauch» ist in diesem Anzreizsystem gar nicht möglich. Wer Nez Rouge vorsätzlich nutzt (die Gratisheimfahrt also im Voraus einplant), macht schlicht «Gebrauch» vom Angebot. Das offizielle Leitmotiv «Drink or Drive» bedeutet faktisch: Trinke und profitiere.

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Kommentare

Leduc

Dieses "Pro und Contra" ist ein ausgezeichneter Beitrag des BT! Herr Tobias Graden geht von einer "ressourcenorientierten" Hypothese aus, die wohl jeder verantwortungsvolle Autofahrer – zumindest im nüchternen Zustand - unterschreiben würde. An die Maxime "Drink or drive" hält sich mittlerweile ein Grossteil Motorfahrzeugführer. Als "Motivator" hilft das verschärfte Strafrecht in Sachen Alkohol am Steuer. Herr Graden vertritt damit das Bild des zivilisierten und mündigen Staatsbürgers, für welchen der Schutz des Lebens seiner Mitmenschen selbstverständlich ist. Deshalb findet Herr Graden das Angebot von "Nez Rouge" als problematisch: Es kann nicht sein, dass sich Trinkfreudige - a priori - mit dem Auto zu Besäufnissen begeben, nur weil womöglich ein Gratis-Homing-Service wartet. Herr Fabian Mainenfisch geht von einer "defektorientierten" Hypothese aus, die ebenfalls nachvollziehbar ist: Der Mensch ist grundsätzlich einsichtig, aber "das Fleisch" kann unter besonderen Umständen "schwach" werden. Herr Maienfisch gibt dazu ein überzeugendes Beispiel. Er sieht in der Organisation "Nez Rouge" ein Auffangnetz, das gefährdete Menschen vor grossem Unheil schützen kann. Auch wenn der "defektorientierte" Ansatz von Herrn Maienfisch stört, muss man anerkennen, dass sich Menschen oft weit weg von ihren Möglichkeiten bewegen. Fazit: Beide Autoren haben Recht! Es braucht einerseits den "ressourcenorientierten" Blick nach vorne von Herrn Graden, aber man darf die "defektorientierte" Realität der Menschheit, wie sie Herr Maienfisch beschreibt, nicht ausser Acht lassen. Somit gilt: "Drink or drive" mit allen Mitteln durchsetzen - "Nez Rouge" als Sicherheitsnetz behalten und fördern.


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