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Bildung

Biel als positive Ausnahme

Nur ein Prozent der Volksschüler im Kanton Bern wird zweisprachig unterrichtet. Viel zu wenig, findet die Französischlobby.

Für 350 Schülerinnen und Schüler sind Deutsch und Französisch in der Schule gleichgestellt. Sie besuchen die Filière Bilingue. Bild: Lino Schaerer/a

Lino Schaeren

Der Kanton Bern will mehr in die Zweisprachigkeit investieren, seine Funktion als Brückenkanton zwischen Deutsch- und Welschschweiz stärken. Er stützt sich dabei auf die Empfehlungen eines Expertenberichts, der 2018 erstellt wurde. Präsident der Expertenkommission war der heutige Ständeratspräsident Hans Stöckli (SP). Der Bieler sagte bereits damals, Schüleraustausch sei das A und O zur Förderung der Zweisprachigkeit im Kanton. Auch das Bieler Forum für die Zweisprachigkeit und der Verein Bern bilingue sind der Ansicht, dass für die Stärkung der französischen Sprache der Schulunterricht entscheidend sei. Nur wird nach ihrem Geschmack im Kanton Bern diesbezüglich noch zu wenig gemacht.

Die beiden Organisationen forderten deshalb gestern in einer digitalen Pressekonferenz, dass künftig zweisprachiger Unterricht in allen Teilen des Kantons von der Vorschule bis zum Gymnasium präsent sein müsse. Der Kanton solle eine Strategie zur «Demokratisierung» der Zweisprachigkeit erarbeiten. Die beiden Organisationen kritisieren: Obschon es eine grosse Nachfrage gebe, sei das zweisprachige Schulangebot ausserhalb der Region Biel zu schwach.

Flaschenhals Volksschule

Um das zu untermauern, haben das Forum für die Zweisprachigkeit und der Verein Bern bilingue Daniel Elmiger mit der Erstellung eines «Inventars des zweisprachigen Unterrichts im Kanton Bern» beauftragt. Elmiger arbeitet am Institut für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Genf. Gestern hat er das Ergebnis seiner Forschung zusammen mit seinen Auftraggebern den Medien präsentiert. Der Linguistik-Professor sagt, der zweisprachige Unterricht habe im Kanton Bern in den vergangenen 20 Jahren einen erstaunlichen Aufschwung erlebt. Allerdings nur auf Vorschulstufe und an weiterführenden Schulen.

So habe sich der Anteil der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, die einen zweisprachigen Lehrgang absolvieren, in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt. Heute absolviert jeder Vierte das Gymi zweisprachig – drei Viertel davon allerdings Deutsch-Englisch.

Anders beim obligatorischen Schulunterricht. Hier gibt es nebst Pilotprojekten in Biel und Bern laut Elmiger kaum zweisprachige Angebote; nur ein Prozent der Volksschüler im Kanton Bern wird zweisprachig unterrichtet. In Biel wird die Filière Bilingue seit 2010 geführt, 2019 wurde das Projekt auf die Sekundarstufe I ausgeweitet – auf dieser Stufe stellt Biel gar das einzige Angebot kantonsweit. Elmiger sagt denn auch, die obligatorische Schule erweise sich «als Flaschenhals». Er glaubt, dass die Experimentierfreude in der Volksschule aufgrund des enggefassten Bildungsauftrags deutlich kleiner sei, während in der Vorschule die Freiheit grösser und im Gymnasium die Eigenverantwortung zentraler seien.

Dass zweisprachiger Unterricht im Kanton Bern aber auch in der Volksschule gefragt wäre, macht Bern-bilingue-Präsident Alexandre Schmidt an der Nachfrage in Bern und Biel fest: In Bern hätte bei Eröffnung der ersten zweisprachig geführten Klasse jeder Stuhl zehnmal besetzt werden können. In Biel, wo nur Kinder aufgenommen werden, die in der Nähe des Filière-Bilingue-Standorts wohnen, rufen schon mal Eltern auf der Verwaltung an und fragen, wo sie denn einziehen müssten, damit ihr Kind berücksichtigt wird.

Schmidt fordert deshalb, den zweisprachigen Unterricht als eigenständiges Schulmodell kantonsweit zu etablieren. Er sagt: «Es darf nicht vom Wohnort abhängen, ob jemand den zweisprachigen Unterricht nutzen kann. Es braucht eine Strategie für ein flächendeckendes, nachfrageorientiertes Angebot.» Man verlange nicht zweisprachigen Unterricht in jedem Schulhaus, präzisiert Schmidt, mindestens aber in jedem Verwaltungskreis ein entsprechendes Angebot von Volksschule bis Gymnasium, das für alle zugänglich sei.

Neuenburg macht es vor

Geht es nach dem Forum für die Zweisprachigkeit und Bern bilingue, soll also das, was in Biel seit 2010 vorgespurt wird, mittelfristig im ganzen Kanton Nachahmer finden. Zumindest, was das Organisatorische betrifft. Denn das reziproke Bieler Modell ist kaum auf das Emmental oder das Oberland übertragbar – die Filière Bilingue setzt sich schliesslich zu je einem Drittel aus deutschsprachigen, französischsprachigen und fremdsprachigen Kindern zusammen. Biel hat im Pilotprojekt Französisch und Deutsch kürzlich komplett gleichgestellt, Lehrplan 21 und Plan d’études romand verschmelzen.

Im Vergleich dazu sind die Anforderungen, die Elmiger für seine Erhebung an zweisprachigen Unterricht gestellt hat, schon fast minim: Eingeflossen in das «Inventar» sind alle Angebote, die regelmässig mindestens ein bis zwei Lektionen pro Woche zusätzlich zum Sprachunterricht in einer zweiten Sprache vorsehen.

Virginie Borel, Geschäftsführerin des Forums für Zweisprachigkeit, sagt deshalb: «Die Zweisprachigkeit soll sich nicht mehr nur auf unsere Region fokussieren. Aber die Vision der Zweisprachigkeit ist für den Kanton eine andere als für Biel.» Deshalb dient als Vorbild für das Forum und Bern bilingue vordergründig auch nicht die Bieler Filière Bilingue – sondern das Projekt «Prima» aus Neuenburg.

Obwohl einsprachig, haben die Neuenburger 2011 die Möglichkeit geschaffen, dass Kinder bereits ab vier Jahren in der deutschen Sprache unterrichtet werden. Das Pilotprojekt der Neuenburger umfasst laut Elmiger inzwischen rund 700 Schülerinnen und Schüler und wurde – wie die Filière Bilingue in Biel – kürzlich auf die Sekundarschule ausgeweitet. Anders als in Biel sind die beiden Landessprachen im Neuenburger Pilotprojekt aber nur im Kindergarten gleichgestellt – ab dem ersten Schuljahr finden nur noch maximal 30 Prozent der Unterrichtszeit auf Deutsch statt.

Linguistik-Professor Elmiger ist sich sicher: Bereits einige wenige Lektionen pro Woche zusätzlich in der Fremdsprache können einen enormen Unterschied machen. Zumal ganz anders kommuniziert werde, wenn ein Fach wie Mathematik in der eigentlichen Fremdsprache unterrichtet werde. «Im Sprachunterricht», sagt Elmiger, «wird heute zumindest am Anfang leider sehr wenig kommuniziert.»

Elitäres Angebot?

Der Kanton Bern steht den zweisprachigen Schulprojekten grundsätzlich positiv gegenüber, er hat die Stadt Biel 2010 beim Aufbau der Filière Bilingue ebenso unterstützt wie die Stadt Bern 2018 bei der Schaffung zweisprachiger Klassen. Die Projekte ernteten aber auch Kritik, weil durch sie eine Chancenungleichheit geschaffen werde, da das Angebot nur einigen wenigen Privilegierten offenstehe.

Ein elitäres Angebot, also? In Biel wurde zudem moniert, dass der Versuchsbetrieb realitätsfremd sei; die Klassen setzen sich je zu einem Drittel aus deutschsprachigen, französischsprachigen und fremdsprachigen Kindern zusammen. Der Anteil der fremdsprachigen Schülerinnen und Schülern übersteigt in Biel aber inzwischen die 50-Prozent-Marke, in einigen Quartieren liegt er gar weit über 80 Prozent.

Die Kritik machte der Beliebtheit der Filière Bilingue allerdings keinen Abbruch. Jedes Jahr bewerben sich mehrere Familien auf jeden der knapp 50 neuen Plätze. Rund 350 der 6000 Bieler Schülerinnen und Schüler absolvieren inzwischen den zweisprachigen Bieler Unterricht. Das Pilotprojekt sah ursprünglich vor, das Angebot auf weitere Standorte in der Stadt auszuweiten. Doch dazu fehlte schliesslich das Geld. So bleibt auch in Biel, der Brückenstadt im Kanton Bern, die zweisprachige Volksschule vorerst für viele verschlossen.

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