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Fahrende

Biel hat an uns ein Exempel statuiert

Die Behörden gingen gegen Schweizer Fahrende viel konsequenter vor als gegen ausländische, kritisieren Betroffene. Ein Fall aus der Region scheint die alte Klage zu bestätigen.

Im Juni 2019 trafen sich Fahrende auf dem Bieler Expo-Gelände zur Zeitmission. Das hat Folgen - bis heute. Bild: Franziska Rothenbühler

Stephan Künzi

Unvermittelt hebt May Bittel die Stimme, mit seiner rechten Hand setzt er zu einer kräftigen Bewegung an. «Wir können keinen Strich ziehen unter das, was uns Pro Juventute angetan hat.» Dass der Geist der Jugend-Stiftung noch heute derart spürbar sei, «das bedrückt, tut weh».


Fast eine Stunde lang hat Bittel vor diesem emotionalen Moment aus seinem Leben als Schweizer Fahrender erzählt. In seinem Winterquartier in der Region Genf sprach er davon, wie er schon als kleiner Junge an den Rand der Gesellschaft gedrückt wurde: «Meine Eltern hatten ständig Angst, dass man mich ihnen wegnimmt.»


Schuld war das Pro-Juventute-Hilfswerk Kinder der Landstrasse. Es wollte die Kinder der Fahrenden zu sesshaften Menschen umerziehen und riss deshalb Hunderte von Familien auseinander. Für Bittel und seine Eltern wurde es irgendwann in den ausgehenden 1950er-Jahren kritisch. «Wir mussten alles stehen und liegen lassen und fliehen. Sonst hätten sie mich geholt.»


Dieses Erlebnis prägt Bittel bis heute, da er auf die 70 zugeht. Wenn er sich ungerecht behandelt fühlt, treibt es ihn besonders stark um. Wie Mitte Januar, als die Staatsanwaltschaft Biel-Seeland ein Verfahren gegen ihn und vier weitere Schweizer Fahrende zwar aufhob, ihm gleichzeitig aber 700 Franken als Beitrag an die Verfahrenskosten aufbrummte.
Für Bittel kommt dieses Verdikt einer Busse gleich.


Gelände war offen
Ihren Anfang nimmt diese Geschichte im Juni 2019. Als Pastor der freikirchlich geprägten Evangelischen Zigeunermission suchte Bittel einen Halteort für seine Zeltmission. Vier Wochen lang wollte er mit Gleichgesinnten seinen Glauben leben. In Gottesdiensten, aber auch im gemütlichen Zusammensein.


Bittel fragte in Biel an. Er tat dies mit gutem Grund, denn mit dem ehemaligen Expo-Gelände verfügt die Stadt über eine Brachfläche, auf der schon mehrfach Fahrende haltmachten. Einen Rückruf aufs Handy interpretierte er prompt als mündliche Zusage – dumm nur, dass das Areal zwar Biel gehört, aber bereits auf Boden der Nachbargemeinde Nidau liegt und diese quasi in letzter Minute Nein sagte (das BT berichtete).
Diesen Bescheid teilten die Nidauer Behörden den Fahrenden umgehend mit. So steht es in den Akten der Staatsanwaltschaft und weiter: Bittel habe in der Folge erklärt, die Zeltmission werde trotzdem wie vorgesehen stattfinden. Nur vier Tage vor Beginn liess sich schlicht keine Alternative mehr finden.


Am 2. Juni nahmen die rund 15 Gespanne problemlos das Expo-Gelände in Beschlag. «Es war offen», sagt Bittel. Tags darauf sei sogar jemand vorbeigekommen, um sich zu vergewissern, ob die Versorgung mit Strom und Wasser klappe.
Umso weniger kann Bittel verstehen, was später passiert ist.


Polizei mit Hunden
Am frühen Morgen des 11. Juni fuhr die Polizei vor. Mittlerweile hatte Biel die Fahrenden nämlich angezeigt, nun galt es, die Personalien der Anwesenden aufzunehmen. «Mit Hunden» seien die Beamten gekommen und: «Sie haben von allen die Fingerabdrücke genommen.» Für Bittel kam der Einsatz umso überraschender, als zuvor «überhaupt niemand mit uns gesprochen hat». Zu einem Gespräch am runden Tisch, das die Sache definitiv klären sollte, kam es erst später. Man machte ab, dass die Fahrenden das Expo-Gelände vorzeitig verlassen. Im Gegensatz zog die Stadt ihre Anzeige zurück.


Nicht geklärt wurde dabei, wer die Verfahrenskosten von gut 10000 Franken zu tragen habe. Dieser Entscheid ist nun Mitte Januar gefallen, und der Staatsanwalt hielt fest: Weil Bittel und seine Mitstreiter das Nein aus Nidau missachtet hätten, seien sie mitverantwortlich dafür, dass die Aufwände überhaupt entstanden seien. Deshalb hätten sie ihren Teil zu tragen.
Damit bekommen die Fahrenden auch nichts an die rund 26000 Franken, die ihr Anwalt als Honorar verlangt. «Biel hat an uns ein Exempel statuiert», hält Bittel mit bitterem Unterton fest. Weil die Stadt schlechte Erfahrungen mit ausländischen Fahrenden gemacht habe, hätten sie, die Schweizer Fahrenden, nun den Kopf hinhalten müssen. Es ist nicht das erste Mal.
 

Blick nach Wileroltigen
Seit Jahr und Tag klagen die Schweizer Fahrenden darüber, dass ihnen die Fahrenden aus dem Ausland das Leben schwer machen. Weil sie vorlaut, ja arrogant aufträten und zwischendurch auch mal einen Platz völlig verschmutzt zurückliessen – und dann poltere die Allgemeinheit wieder: Die Fahrenden insgesamt seien unmöglich.


Dazu haben die Schweizer Fahrenden das Gefühl, von den Behörden härter angepackt zu werden. Bittels Geschichte steht exemplarisch dafür, zumal nur gut eine halbe Autostunde entfernt die Behörden tatsächlich nachsichtiger zu sein scheinen: Letztes wie vorletztes Jahr wurde der Autobahnrastplatz bei Wileroltigen von ausländischen Fahrenden buchstäblich überrollt, ohne dass etwas passierte.
Mark Siegenthaler als Sprecher des zuständigen Bundesamts für Strassen (Astra) bestätigt, dass die angereisten Familien keine rechtlichen Schritte befürchten mussten. «Wir haben bisher stets ohne Anzeige einen gangbaren Weg gefunden», schreibt er.


Diesen Weg findet das Astra, so Siegenthaler, «im Dialog», konkret in Vereinbarungen, die auf dem Rastplatz das Nebeneinander von Fahrenden und Passanten ermöglichen sollen. Wer die Regeln nicht einhalte, müsse mit Konsequenzen rechnen. Und den Platz wie bei der Überbelegung im letzten Jahr verlassen.


Auf dem Rastplatz Wileroltigen hätten noch nie Schweizer Fahrende haltgemacht, sagt Siegenthaler noch. Er versichert aber, dass der Bund «sicher alle Fahrenden ungeachtet ihrer Herkunft gleich behandeln» würde.
 

Ein schwacher Trost
In dieser Hinsicht will auch Biel nicht missverstanden werden. Vize-Stadtschreiber Julien Steiner weist mit Nachdruck darauf hin, dass seine Stadt den Schweizer Fahrenden sowohl einen dauerhaften Standplatz als auch einen Durchgangsplatz für die Reisesaison im Sommer anbiete. Deshalb sei «nicht einzusehen, inwiefern Schweizer Fahrende gegenüber ausländischen Fahrenden benachteiligt sein sollen».


Das Vorgehen gegen Bittel und seine Leute begründet Steiner mit dem «klaren negativen Entscheid» der Nidauer Behörden. Gleichzeitig betont er, dass man mit den Fahrenden im Grundsatz stets eine einvernehmliche Lösung suche und deshalb ihren Aufenthalt ein paar Tage toleriere.
Das funktionierte ganz offensichtlich auch letztes Jahr so, als auf dem Expo-Gelände unvermittelt ausländische Fahrende auftauchten. Steiner schreibt jedenfalls: «In der jüngeren Vergangenheit wurden entweder keine Anzeigen gemacht, da der Platz wieder geräumt wurde. Oder die Anzeigen wurden zur Deeskalation wieder zurückgezogen.»


Für Bittel ist das ein schwacher Trost. Zu sehr sitzt ihm der Polizeieinsatz noch heute in den Knochen. Das erklärt, wieso er sich gemeinsam mit den vier anderen Schweizer Fahrenden nun vor Obergericht aus Prinzip, wie er sagt, gegen die Übernahme der Verfahrenskosten wehrt. Und gleichzeitig auch Schmerzensgeld verlangt.
Der Geist von Pro Juventute, er macht ihm noch heute zu schaffen.

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