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Abstimmungen

Biel hat Wähler zu Unrecht abgewiesen

Ohrfeige für Biel: Der Regierungsrat erteilt der Stadt einen Rüffel, weil diese am 27. September Wählerinnen und Wähler von der Stimmabgabe abgehalten hatte. Konsequenzen für Biel hat das allerdings keine.

Bild: lsg
  • Dossier

Als am 27. September die Wahllokale in Biel um 12 Uhr schlossen, standen sowohl in der Altstadt als auch auf dem Robert-Walser-Platz noch Dutzende Personen Schlange, um ihre Stimme abzugeben. Die Stadt war vom grossen Aufmarsch und der hohen Stimmbeteiligung überrascht – und offenkundig überfordert. Die Verwaltung hatte im Vorfeld des Urnengangs aufgrund der Coronavirus-Situation zur brieflichen Stimmabgabe aufgefordert. Gerade weil aber die umstrittenen nationalen Vorlagen – Begrenzungsinitiative, Jagdgesetz, Kampfjetkauf – stark mobilisierten, kam es dennoch zum Andrang auf die Wahl- und Stimmlokale in letzter Minute.

Die Stadtkanzlei hatte mit rund 50 Wartenden jedoch kein Erbarmen: Obwohl rechtzeitig vor Ort, konnten sie ihre Stimme nicht mehr abgeben. Was auf dem Robert-Walser-Platz zu Tumulten und sogar Handgreiflichkeiten gegen Vize-Stadtschreiber Julien Steiner und den Leiter des Stimm- und Wahlausschusses führte, hat jetzt aufgrund einer Beschwerde auch den Regierungsrat des Kantons Bern beschäftigt. Dieser rügt die Stadt: Den Wartenden hätte die Stimmabgabe ermöglicht werden müssen, heisst es im gestern publik gewordenen Entscheid.

 

BDP die Leidtragende?

Es ist in erster Linie eine Ohrfeige für die Bieler Stadtkanzlei, die sich am Wahl- und Abstimmungssonntag mit Verweis auf die kantonale Gesetzgebung in ihrem Vorgehen noch im Recht sah. Sie hatte zudem darauf hingewiesen, mit dem Ansturm auf die Lokale nicht gerechnet zu haben. Stadtschreiberin Barbara Labbé sagt rückblickend: «Seit ich im Amt bin, hat es an einem Abstimmungssonntag noch nie Schlangen vor den Wahllokalen gegeben. Wir waren darauf nicht vorbereitet und deshalb komplett überrumpelt.» Die Stadtkanzlei hatte sich mit dem Schliessungsentscheid der Lokale um 12 Uhr auf Artikel 43 der kantonalen Verordnung über die politischen Rechte berufen. Dieser besagt: «Zur Stimmabgabe nach Schliessung des Abstimmungsraums ist nur zugelassen, wer vor der Schliessung zur Stimmabgabe eingetroffen ist.»

Was «eingetroffen» bedeutet, kann aber offensichtlich rechtlich ganz anders aufgefasst werden. Während die Stadt so verfuhr, dass nur noch abstimmen und wählen durfte, wer sich um 12 Uhr bereits im Stimmlokal oder unmittelbar vor der Türe befand, hält der Regierungsrat jetzt fest, dass auch jene als «eingetroffen» gelten, die sich bis 11.59 Uhr in eine Schlange gestellt hatten. Labbé nimmt den Entscheid der Kantonsregierung zur Kenntnis und spricht von «einem Fehler, den wir begangen haben und zu dem wir stehen».

Unmittelbare Konsequenzen hat der Entscheid des Regierungsrats indessen nicht. Er äussert nämlich auch Verständnis für die ausserordentliche Lage an diesem 27. September – die Stimmbeteiligung lag in Biel mit 50 Prozent nämlich so hoch wie nur sehr selten, und das ausgerechnet bei Corona-Bedingungen. Der Regierungsrat hält zudem fest, dass die Stimmen, die nicht abgegeben werden konnten, die Resultate der Abstimmungen und Wahlen nicht infrage gestellt hätten und diese somit gültig seien. Tatsächlich kam es in Biel nur zu einem sehr knappen Resultat bei den städtischen Wahlen – und zwar bei der Abwahl von Stadtrat Reto Gugger (BDP). Nur gerade 75 Stimmen fehlten der Liste «Vereinte Mitte», und der Sitz von Gugger wäre zuungunsten der SVP verteidigt worden. 75 Stimmen, das entspricht lediglich anderthalb unverändert eingeworfener Listen.

Gugger selber, der am Wahlsonntag in den Ferien weilte, hat deshalb aber nie eine Wahlbeschwerde in Betracht gezogen. «Ich gehe davon aus, dass die Stimmen der Abgewiesenen ein Abbild des Gesamtresultats gewesen wären», sagt er, «alles andere wären Mutmassungen.» Der Mitte-Politiker gibt zwar zu, sich im ersten Moment auch einige Gedanken zu den abgewiesenen Wählerinnen und Wählern gemacht zu haben. «Aber letztlich nützt es nichts, wir haben zu wenig Stimmen gemacht und deshalb meinen Sitz verloren, das habe ich zu akzeptieren.»

 

Bern zeigt, wie es geht

Der Bieler Gemeinderat äusserte gestern in einer ersten Reaktion Bedauern darüber, dass die Wartenden am 27. September am Wählen und Abstimmen gehindert wurden. Er bitte die Stadtkanzlei, zusammen mit den kantonalen Behörden abzuklären, was der Entscheid des Regierungsrats organisatorisch für die Abstimmungen vom 29. November bedeute, schreibt die Stadtregierung in ihrer gestrigen Mitteilung. Am 29. November wird auf nationaler Ebene über die sogenannte Konzernverantwortungsinitiative und in Biel zusätzlich über das städtische Budget 2021 abgestimmt.

Wie mit simpelsten Massnahmen sichergestellt werden kann, dass alle Stimmberechtigten, die sich rechtzeitig vor dem Lokal einfinden, ihre Stimme abgeben können, hat die Stadt Bern 2016 vorgemacht. Damals, als es in der Bundesstadt bei Abstimmungen und Wahlen ebenfalls zu einer langen Warteschlange kam, stellte sich Stadtschreiber Jürg Wichtermann um 12 Uhr schlicht als eine Art «Besenwagen» hinter die letzte pünktliche Wartende. Wer sich später – und damit zu spät – noch zur Stimmabgabe anstellen wollte, wurde abgewiesen.

So oder ähnlich will das künftig auch Biel handhaben. Gerade weil es am 27. September vor dem Wahllokal beim Bahnhof auch zu Handgreiflichkeiten kam, will sich die Stadtkanzlei laut Labbé eingehender Gedanken dazu machen, wie die Stimmabgabe in einem solchen Fall künftig organisiert werden soll. Klar sei aber, dass künftig niemand mehr abgewiesen wird, der vor 12 Uhr beim Stimmlokal ist. Barbara Labbé sagt mit Blick auf die normalerweise tiefe Bieler Stimmbeteiligung: «Ich würde mir wünschen, dass es an Abstimmungssonntagen immer zu Schlangenbildungen vor den Stimm- und Wahllokalen kommt. In Zukunft werden wir auf jeden Fall darauf vorbereitet sein.»

Lino Schaeren

Stichwörter: Biel, Abstimmungen, Wahlen, Stimmen

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