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Aus dem Grossen Rat

Bonsai-Nationalräte

Pro Grossrats-Session werden 70 bis 100 Geschäfte behandelt. Das braucht Zeit. «Debatten und Diskussionen bilden das Rückgrat unserer Demokratie», werden Sie sagen, «und das braucht eben Zeit».

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von Julien Stocker, 
Grossrat GLP

Ich gebe Ihnen recht. Seit ich im Stadtrat und im Grossen Rat bin, muss ich aber leider feststellen, dass man sich auch so manche Diskussion sparen könnte. Oft werden nämlich Vorstösse eingereicht, die nicht stufengerecht sind, weil sie gegen höheres Recht verstossen oder weil die betreffenden Entscheide nicht in der Kompetenz des jeweiligen Rates sind.

Wie soll zum Beispiel die Stadt Biel im Mittelmeer Flüchtlinge retten? So humanistisch erstrebenswert ich das finde, dies übersteigt die Kompetenzen und Möglichkeiten der Stadt. Solche Anliegen müssen auf nationaler Ebene diskutiert und danach international koordiniert werden.

Im Grossen Rat haben solche Vorstösse in letzter Zeit stark zugenommen, was wohl damit zu tun hat, dass bald Wahlen stattfinden. Anstatt sich mit der kantonalen Gesetzgebung zu befassen, geben gewisse Mitglieder des Grossen Rats regelmässig Vorstösse zur nationalen Gesetzgebung ein, weshalb sie heimlich von den andern als «Bonsai-Nationalräte» bezeichnet werden.

In der letzten Session wurde zum Beispiel von der SP gefordert, dass der Kanton Bern den
Vaterschaftsurlaub einführen soll. Für mich, als werdender Vater und Befürworter der Elternzeit, tönt das natürlich grossartig. Wer sich aber ein bisschen mit dem Arbeitsrecht auseinandersetzt, weiss, dass die Kompetenz für die Einführung eines Vaterschafts- oder Elternurlaubs einzig beim Bund liegt, denn dafür bedarf es einer Änderung des Obligationenrechts, beziehungsweise des Arbeitsgesetzes. Die Kantone sind nicht ermächtigt, Gesetze über Urlaube und Ferien zu erlassen, lautete die Antwort des Regierungsrats und mit dieser Begründung wurde der Vorstoss vom Grossen Rat dann auch abgelehnt.

160 Grossräte verbringen während jeder Session Stunden damit, über solche nicht-stufengerechten Vorstösse zu debattieren, was wahrscheinlich im Endeffekt hunderttausende Franken an Steuergelder kostet. Das allein ist schon schlimm genug, aber was mich moralisch am meisten stört, ist dass die Politiker, welche die jeweiligen Vorstösse eingereicht haben, gegenüber der Öffentlichkeit behaupten, die anderen Parteien seien gegen ihre Anliegen gewesen.
Das ist für mich Betrug an den Wählern. Oft dienen solche Vorstösse der reinen Stimmungsmache und werden aus reinem Kalkül gemacht, denn ginge es wirklich darum, etwas zu bewirken, würden die Politiker den Vorstoss an ihre Parteikollegen im Bundeshaus weitergeben.


kontext@bielertagblatt.ch

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