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Serie Mein Montag

Chefarzt zwischen Mensch und Technik

Wenig Schlaf, lange Arbeitstage, berührende Schicksale und Hochgefühle nach erfolgreichen Operationen:Ein Gespräch mit Jérôme Mathis über seinen Alltag als Chefarzt der Frauenklinik am Spitalzentrum Biel.

Jérôme Mathis: Krebsleiden bei Frauen sind heute gut behandelbar. Das macht die Arbeit für ihn motivierend. Nico Kobel

Aufgezeichnet: Brigitte Jeckelmann
« Meine Montage als Chefarzt Gynäkologie am Spitalzentrum Biel beginnen mit dem Morgenrapport um halb acht Uhr. Dann bespreche ich mit dem ganzen Ärzteteam, was in der Nacht gelaufen ist. Zwischen acht und neun Uhr planen wir die Woche: Was gilt es, für Patientinnen zu organisieren, denen es schlecht geht? Welche Operationen stehen an? Manchmal muss ich dann auch wichtige Telefonate erledigen, die seit dem Wochenende warten. Bei der anschliessenden Chefvisite zwischen neun und zehn Uhr schaue ich mir persönlich die schwierigen Fälle an. Also jene Patientinnen, bei denen die Assistenz- und Oberärzte meine Einschätzung benötigen. Von zehn bis zwölf plane ich oft längere Besprechungen ein, beispielsweise mit Frauen, bei denen der Krebs so weit fortgeschritten ist, dass wir nicht mehr operieren können. Für solche Gespräche braucht es mehr Zeit als zwanzig Minuten. Gerade letzte Woche musste ich einer 75-jährigen Frau beibringen, dass eine ihrer Brüste fast nur noch aus Krebsgewebe besteht. Sie hätte damit viel früher zum Arzt gehen müssen. Sie ist aber nicht die Einzige, die zu lange zuwartet. Ein Brustkrebs beginnt oft mit einem kleinen Knoten, den man nicht weiter beachtet. Bis dieser zu einem grösseren Knoten und schliesslich zu einer faustgrossen Kugel anwächst, kann es zwei, drei Jahre dauern. Betroffene warten manchmal aus Angst so lange, bis es zu spät ist. Aber selbst ein faustgrosser Brustkrebs muss nicht tödlich enden. Denn nicht alle Formen bilden Metastasen oder Ableger im Körper.
Um zwölf ist Mittagspause. Das heisst, ich versuche, kurz etwas zu essen, ein Sandwich oder so. Etwa jeden zweiten Tag reicht die Zeit für ein Menu im Spitalrestaurant. Am Nachmittag halte ich meine Sprechstunde. Ungefähr alle 20 Minuten sehe ich eine neue Patientin. Letzten Montag waren es drei Frauen mit Brustkrebs und einige mit Zysten an den Eierstöcken, die mir zugewiesen wurden. Dazu diverse Rücksprachen mit Ärzten wegen Spezialuntersuchungen. Die Sprechstunde dauert unterschiedlich lange. Manchmal muss ich um fünf Uhr für den Abendrapport unterbrechen. An zwei Tagen pro Woche führe ich mit Oberärzten Operationen durch; ich selbst operiere jeweils mittwochs.
Mein Spezialgebiet sind Krebsleiden bei Frauen, die so genannte Gynäkologische Onkologie. Konkret heisst das: Ich diagnostiziere und behandle zum Beispiel Brust-, Eierstock- und Gebärmutterhalskrebs. Dieses Fachgebiet habe ich gewählt, weil es die grösste und schwierigste chirurgische Disziplin ist. Das hat mich herausgefordert. Zudem macht mir diese Tätigkeit auch Freude – obwohl man denken könnte, dass Freude im Zusammenhang mit Krebs schwer vorstellbar ist. Aber gerade Brustkrebs kann man heute sehr gut behandeln. Neun von zehn Frauen überleben. Auch Gebärmutterhalskrebs ist viel seltener als früher. Vor allem, weil man ihn dank des Krebsabstrichs so früh erkennt, dass man eingreifen kann, bevor sich die Krebsvorform zu einem Tumor entwickelt. Das macht die Arbeit erfreulich und motivierend.
Wie alle Kaderärzte leiste auch ich Hintergrunddienste, während denen ich rund um die Uhr telefonisch erreichbar bin. Mit mir zusammen sind wir in der Frauenklinik zu viert, die sich die Tage untereinander aufteilen. Bei Abwesenheiten und Krankheit kommt es vor, dass wir durchgehend im Bereitschaftsdienst sind. Diesen Monat war ich zehn Tage lang ununterbrochen in Bereitschaft. Die Hintergrunddienste sind aber unterschiedlich intensiv. Wenn ich mehrmals nachts ans Telefon muss, bin ich tagsüber nicht immer allzu frisch. Aber das macht mir nichts aus, das ist man sich als Arzt gewohnt. Obwohl die unregelmässigen und oft sehr langen Arbeitszeiten anstrengend sind, fühle ich mich fit und gesund. Dafür treibe ich viel Sport; ich jogge und fahre Velo. Zudem habe ich zwei Kinder im Alter von fünf und zehn Jahren, die mich zusätzlich auf Trab halten.
Konzentrieren kann ich mich immer gut, auch wenn ich nachts im Einsatz war. Solange ich etwas tue, spüre ich keine Müdigkeit. Sie kommt erst dann, wenn ich zuhause bin und mich entspanne. Aber es ist klar, wenn das mehrere Tage hintereinander so geht, ist es nicht mehr ganz einfach; man ist vielleicht schneller gereizt als sonst.
Doch das bringt der Beruf mit sich. Und gerade in der Geburtshilfe läuft nachts immer etwas. Alles, was wir planen können, erledigen wir tagsüber. Notfälle kann man jedoch weder planen noch steuern. Zum Glück bin ich noch jung und habe keine Probleme damit, mich zu erholen. Ich kann sehr gut abschalten, und sobald ich im Bett liege, schlafe ich ein. Sogar dann, wenn ich Hintergrunddienst habe und weiss, dass mich das Spital wohl anrufen wird. Ich bin aber ruhig, weil ich meinem Team vertraue und das ganz pragmatisch angehe: Wenn ich eine Frage telefonisch beantworten kann, drehe ich mich um und schlafe einfach weiter. Wenn meine Anwesenheit nötig ist, steige ich ins Auto und fahre nach Biel. Glücklicherweise bin ich nicht der Typ, der sich viele Gedanken über Vergangenes macht. Ich nehme einen Tag nach dem andern und schaue nach vorn.
Natürlich: Wenn ein Kind stirbt, eine Mutter oder eine junge Frau mit Krebs, berührt mich das sehr. Ich darf mich aber von der Traurigkeit nicht überwältigen lassen. Meine Aufgabe als Arzt ist, meinen Patientinnen Mut zu machen, ihnen aufzuzeigen, was ich für sie tun kann. Und im Operationssaal steht die Technik im Vordergrund. Dabei denkt man als Arzt nicht dauernd daran, dass es ein Mensch ist, den wir operieren. Unter uns sagen wir das oft so: Wer macht diese Gebärmutterentfernung? Der Gedanke an die Patientin ist weit weg. Ich glaube aber, dass das gut ist. Denn so sind wir auf die Operation fokussiert; darauf, was wir tun müssen, und nicht darauf, wer die Person ist.
Wenn ich im Dienst bin, kümmere ich mich als Frauenarzt um alle Patientinnen, egal ob Geburtshilfe oder Gynäkologie. Gerade Geburten können sehr dramatisch verlaufen. Ein Baby zu verlieren kommt vor, etwa wegen Frühgeburten oder Missbildungen. Dass die Mutter stirbt, ist seltener. Die schlimmste Situation ist für mich, wenn ein Vater mit kleinen Kindern ohne die Mutter alleine zurückbleibt. Ich erinnere mich an einen Fall aus meiner Zeit in Lausanne: Ich hatte als Oberarzt Nachtdienst und begleitete eine Woche lang jeden Abend einen Mann zu seiner Frau auf die Intensivstation. Sie hatte schwere Komplikationen nach einer Geburt, und wir wussten nicht, ob sie überlebt. Das Paar hatte zwei kleine Kinder. Ich musste dem Vater sagen, dass wir unser Bestes tun, aber nicht sicher sind, ob seine Frau es schaffen würde.
Solche Dinge begleiten einen dann schon auf dem Weg nach Hause. Die schwierigsten Momente sind jene, wenn wir akzeptieren müssen, dass unser Bestes nicht gut genug war.
Ich bin seit Oktober letzten Jahres Chefarzt der Frauenklinik am Spitalzentrum Biel. Wir sind ein Team von fast 25 Ärztinnen und Ärzten. Als Chefarzt muss ich mich um alles kümmern, auch um die Weiterbildung der Ärzte, und unsere Arbeit ständig hinterfragen: Sind wir gut genug? Und wenn nötig, dafür schauen, dass wir uns verbessern. Ein Team zu führen, braucht viel Fingerspitzengefühl. Denn ich sehe mich nicht nur als Chef, sondern bin auch ein bisschen der «Papa»: Ich bin verantwortlich, dass die Leute gut im Beruf sind und gefördert werden, und ich interessiere mich auch dafür, ob es ihnen gut geht.
Mein eigenes Leben besteht aus Arbeit und Familie, das macht zusammen schon 150 Prozent. Platz für aufwendige Hobbys bleibt da nicht. Es ist schon vorgekommen, dass ich meine Kinder mit ins Büro genommen habe, weil ich operieren musste. An manchen Tagen hole ich sie um halb fünf von der Schule ab. Dann sind wir zusammen, bis sie um neun Uhr zu Bett gehen, und ich arbeite dann noch bis zwölf Uhr weiter. Ich hatte dann zwar einen langen Tag, war aber auch für meine Kinder da.
Ob ich bis zur Pensionierung Chefarzt bleibe, kann ich nicht sagen. Ich habe bisher im Leben viel Glück gehabt. Wenn möglich, möchte ich der Gesellschaft gerne etwas von diesem Glück zurückgeben. Ich weiss zwar noch nicht wann und wie, aber als Arzt möchte ich das eines Tages gerne auch ausserhalb meiner beruflichen Tätigkeit tun.»
alle Teile der Serie finden Sie unterwww.bielertagblatt/montag

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