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Dencity

Damit das Leben die Strasse zurückerobert

Die Bieler Forschungsgruppe Dencity misst in Bern und Zürich den Erfolg eines Quartierprojekts zur Belebung des öffentlichen Raums in Begegnungszonen.

Quartierstrassen sollen zu Begegnungszonen werden und damit die Lebensqualität der Anwohneden verbessern. Bild: zvg

Daniela Deck

Die Berner Fachhochschule BFH evaluiert die Wirksamkeit von Massnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität in städtischen Wohngebieten. Federführend beim Projekt (2020-2024) ist auf wissenschaftlicher Seite die Forschungsgruppe Dencity um den Bieler Architekturprofessor William Fuhrer im Departement Architektur, Holz und Bau. Benannt ist die Forschungsgruppe in Anlehnung an die englischen Wörter «density» (Dichte) und city (Stadt) und genau darum geht es: Will die Gesellschaft unter dem raumplanerischen Diktat der Verdichtung die Lebensqualität in Agglomerationsgebieten erhalten, darf der Strassenraum dort künftig nicht mehr allein dem Verkehr vorbehalten sein.

Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Doch Inspiration finden die Projektverantwortlichen sehr wohl in der städtischen Schweiz um das Jahr 1900. Damals teilten sich Pferdewagen, Fussgänger und spielende Kinder den Strassenraum. Dieser war noch nicht von sicherheitstechnischen Normen wie Kurvenradien und Randsteinhöhen bestimmt. Die Gefahren anno dazumal wünscht sich niemand zurück, doch Entschleunigung und Kreativität sollen heute wieder zum Zug kommen.

Aus diesem Grund hat sich unter dem Monitoring von Dencity letztes Jahr eine breit abgestützte Allianz von Stadtplanern und Architekten mit Pro Juventute, Fussverkehr Schweiz, dem Büro Olga und Experten aus dem Tiefbau von Bern und Zürich zusammengetan, um bestehende Begegnungszonen weiterzuentwickeln. Die Bewohnerinnen und Bewohner am Benteliweg in Bümpliz Süd (Bern) und eines Abschnittes der Goldbrunnenstrasse (Zürich) sollen auf Augenhöhe mit den Experten den Strassenraum als Zone zum Leben entdecken und in Anspruch nehmen.

Projektmitarbeiterin Angela von Däniken sagt: «In Absprache mit den Städten haben wir darauf geachtet, dass die Altersverteilung sowie das Verhältnis von schweizerischer und ausländischer Wohnbevölkerung im Modellquartier dem Durchschnitt der Stadt entsprechen. Schliesslich wollen wir Erkenntnisse gewinnen, die sich auf andere Begegnungszonen übertragen lassen.» Dencity-Leiter William Fuhrer ergänzt: «Ausgewählt wurden Strassen, bei denen das Potenzial für eine Verbesserung der Lebensqualität besteht.»

Mehr Lebensqualität heisst einerseits Platz zum Spielen und für die Freizeit für alle Altersgruppen und für unterschiedliche Aktivitäten. Andererseits liegt das Augenmerk auf der Nachhaltigkeit. Biodiversität, Massnahmen gegen die Überhitzung und die Einladung, versiegelte Böden der Natur zurückzugeben, sind ebenso wichtig. Möglicherweise kann die Umgestaltung so weit gehen, dass die Bewohnerschaft unter professioneller Aufsicht den Asphaltbelag auffräsen darf, um ein Gemüsebeet oder einen Sandkasten anzulegen. Dazu sei man mit den Städten im Gespräch, sagt Fuhrer.

Solche Aktivitäten sind im städtischen Umfeld nicht neu. Doch bisher blieben sie kreativen Unternehmern vorbehalten, beschränkten sich auf das Bauareal und der Erfolg blieb im Bereich der Mutmassung. Diesmal ist das Versuchslabor der öffentliche (Strassen-)Raum und die Kompetenz zur Gestaltung erschöpft sich nicht in farbigen Bodenmarkierungen; von Däniken, Fuhrer und die übrigen Mitglieder der siebenköpfigen Forschungsgruppe messen Frequenzen, Bewegungen und Befindlichkeiten (Zufriedenheit, Sicherheitsempfinden) vor, während und nach Ende des Projekts – sowie ein Jahr nach dem Abschluss.

«Die Herausforderung besteht darin, zählbare, messbare und aussagekräftige Veränderungen zu erhalten», ist sich von Däniken bewusst. Ausgehend vom Ist-Zustand des Quartiers vor dem operativen Start (Bern: voraussichtlich diesen Mai, Zürich: Mai 2022) wird zum Beispiel gezählt, welche Altersgruppe sich wie lange im Strassenraum aufhält, wohin sie sich bewegt und wie (zu Fuss, per Velo, Rollerblades, Rollator…) und welcher Aktivität sie nachgeht (Arbeitsweg, Freizeit; spielen, lesen, Musik hören, rauchen, reden…).

«Rahmenbedingungen wie Wetter, Tageszeit und Schulferien haben einen beträchtlichen Einfluss auf das Projekt», gibt Fuhrer zu bedenken. Angesprochen und zur Mitarbeit motiviert werden soll die Anwohnerschaft mit einem Flyer, der (in Bern) Mitte April an jeden Quartierhaushalt geschickt wurde. Im Mai folgt eine Zusammenkunft der Projektverantwortlichen mit der Anwohnerschaft zur Sammlung von Wünschen und Ideen. Im Juni dürfen die Interessierten dann mit Säge, Hammer und Schaufel tätig werden. Nach den Sommerferien ist die Auswertung geplant.

«Wir sprechen die Leute gezielt über ihre Kinder an, auch wenn Massnahmen und eine ‹Möblierung› des öffentlichen Raums für alle Altersgruppen realisiert werden sollen», sagt Fuhrer. «Kinder sind grossartige Multiplikatoren und Motivatoren für Eltern und Grosseltern.» Auch selbst dürfen die Kinder tätig werden – im Rahmen eines Malwettbewerbs, für den es beim Startmeeting kleine Preise gibt.

Fuhrer sagt: «Von der gesellschaftlichen Wirkung her kann das Begegnungszonenprojekt nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ganz gezielt haben wir den Menschen und seine Bedürfnisse ins Zentrum gestellt und nicht technologische Anforderungen, geschweige denn Normen. Erstens liefert uns das Projekt Erkenntnisse für eine lebenswerte Zukunft, zweitens arbeiten dafür Städte, Fachstellen und Private eng zusammen.»

Diese Zusammenarbeit hält Fuhrer für notwendig, wenn die Gesellschaft in den nächsten Jahren Verdichtung, Klimaschutz und Lebensqualität unter einen Hut bringen will. «Jetzt braucht es Projekte mit Modellcharakter, die dem transdisziplinären Vorgehen den Weg bahnen, und zwar schnell.» Das heisst: Nur wenn Amtsstellen, Anwohnerinnen und Anwohner und technologische Expertinnen und Experten gemeinsam unterwegs sind, ist nachhaltiger Fortschritt möglich.

Diese Seite ist eine Co-Produktion des Departtementes Architektur, Holz und Bau der Berner Fachhochschule BFH und des "Bieler Tagblatt".

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