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Biel

«Das ist die Geschichte meines Lebens»

Per Zufall stiess BT-Redaktorin Andrea Butorin auf die Familie Emsländer aus Tschugg, die im Zweiten Weltkrieg all ihre Söhne an die Nazis verlor. Der berührende Text schaffte es unter die besten drei in der Sparte «Local» des Swiss Press Awards.

Die Familie Emsländer beschäftigt die 39-jährige Andrea Butorin noch heute. Yann Staffelbach
Interview: Hannah Frei
 
Andrea Butorin, Sie sagen, Sie stehen nicht gern im Rampenlicht. Weshalb haben Sie dann eine Ihrer Geschichten für den Swiss Press Award eingereicht?
Andrea Butorin: Dieser Text soll im Rampenlicht stehen, nicht ich. Für solche Geschichten schreibe ich. Und ich finde: Das ist die Geschichte meines Lebens. Jedenfalls meines bisherigen Lebens. Bereits als ich auf das Thema gestossen bin, haben alle Alarmglocken geklingelt. Ich wusste: Wenn es mir gelingt, etwas über diesen Arnold Emsländer rauszufinden, dann wird das eine gute Geschichte.
 
Geht es beim Swiss Press Award nicht auch um Prestige?
Das ist sicher ein Teil, ja. Nominiert zu sein oder sogar zu gewinnen ist aber auch eine Bestätigung für einen selbst. Dafür, dass man etwas Besonderes geleistet hat. Und ich möchte diese Geschichte so vielen Menschen wie möglich zeigen und zugänglich machen.
 
Was hat Sie zu diesem Artikel inspiriert?
Es war ein Artikel im «Beobachter» über die Krankenmorde der Nazis. Am Ende des Textes waren Namen von Schweizerinnen und Schweizern aufgelistet, die im Zweiten Weltkrieg aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Und da stand diese eine Zeile: «Arnold Emsländer, geb. 28.6.1908 in Tschugg, Bern».
 
Und dann begannen Sie zu recherchieren ...
Ja, ich habe vieles herausgefunden, vieles aber auch nicht. Und ich habe mich gefragt, ob ich wirklich alles gemacht habe, was möglich war. Ob ich noch in ein weiteres Archiv hätte gehen sollen, weitere Personen befragen. Bei einer Anfrage wurde ich meist an zahlreiche weitere Stellen verwiesen. Heute kann ich aber mit gutem Gewissen sagen: ich habe alles versucht, was zu diesem Zeitpunkt möglich war. Aber falls plötzlich irgend ein neues Detail zutage kommen sollte, würde ich mich natürlich darüber freuen. Und wenn es mehr sein sollte als bloss ein kleines Detail, würde ich die Geschichte auch wieder aufrollen.
 
Würden sie rückblickend bei der Recherche etwas anders machen?
Nein. Meine erste Anlaufstelle war die Gemeinde Tschugg. Dort erhielt ich das Familienregister und die Niederlassungsbewilligung der Familie Emsländer. Das war für mich schon ein recht grosser Erfolg. Und danach ging ich einfach von der einen Spur zur nächsten. Parallel dazu habe ich in den Archiven in Deutschland gesucht und bald eine Anfrage für die Akten von Arnold Emsländer im Deutschen Bundesarchiv gestellt. Doch die liessen mich warten, Monat für Monat. Und dann sollte ich immer wieder neue Formulare ausfüllen und einreichen. Ich kam mir vor wie in Kafkas «Prozess». Irgendwann verschärfte ich meinen Ton und verlangte die Unterlagen. Und dann ging es plötzlich schnell.
 
Befürchteten Sie während dieser Zeit jemals, dass am Ende doch keine Geschichte entstehen könnte?
Nein. Aufgrund der Akten wusste ich, dass ich bestimmt irgendetwas von diesem Arnold Emsländer werde erzählen können. Enttäuschend war jedoch, dass im Berner Staatsarchiv praktisch nichts mehr vorhanden war. Der sehr bemühte und freundliche Angestellte sagte damals, das Archiv sei ein «disparater Trümmerhaufen». Und das war es wirklich. Ich finde es krass, dass in der Schweiz so viele Akten vernichtet worden sind.
 
Auch nach dem zweiten Teil der Geschichte bleiben etliche Fragen offen. Beispielsweise, weshalb Arnold Emsländer ausgewiesen wurde. Recherchieren Sie noch weiter?
Nein, aber die Familie beschäftigt mich auch heute noch. Das Schicksal dieser Familie ging mir sehr nahe. Ich gehe davon aus, dass die drei jungen Männer nicht von sich aus in den Krieg gezogen sind, also keine Nazis waren. Ich war so tief in der Geschichte drin, das hat mich wirklich mitgenommen. Mehr, als ich es mir bei einer Geschichte über noch lebende Menschen erlaubt hätte.
 
Konnten Sie trotzdem mit der Geschichte abschliessen?
Grundsätzlich schon, ja. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass ich, wenn ich einmal im Elsass oder in der Ukraine sein sollte, eines der Gräber der jungen Männer besuche. Ich würde nicht extra deswegen dorthin fahren, aber wenn ich schon einmal in der Region wäre, weshalb nicht.
 
Wie war der Moment für Sie, als Sie erfahren haben, dass Ihre Geschichte für den Swiss Press Award nominiert ist?
Ich war unglaublich überrascht. Als der Jury-Präsident angerufen hat, verstand ich erst gar nicht, worum es geht. Ich konnte es kaum glauben und habe mich sehr gefreut.
 
Wie hoch haben Sie Ihre Gewinnchancen eingeschätzt?
Nicht sehr hoch. Für mich lag die Recherche der drei BZ-Journalisten zum Blausee klar vorne. Das ist ein anderes Kaliber. Und daher finde ich es auch richtig, dass ihre Geschichte den ersten Platz gemacht hat.
 
Weshalb ist die Blausee-Story für Sie ein anderes Kaliber?
Es handelt sich um eine grosse und aktuelle Recherche mit Folgen für die Verursacher des Skandals. Solche Geschichten zeigen, weshalb es uns Journalistinnen und Journalisten braucht und immer brauchen wird. Ohne diese Story wäre der Fall vielleicht nie aufgedeckt worden, es gäbe kein Verfahren, die Verantwortlichen würden nicht zur Rechenschaft gezogen. Mit einem historischen Text gegen einen aktuellen Knüller anzutreten, ist schwer.
 
Was zeichnet eine gute journalistische Geschichte aus?
Eine klare Vorgabe dafür gibt es nicht. Aber am Anfang jeder guten Geschichte steht das Interesse. Es muss ein Thema sein, für das man bereit ist, alles zu geben. Mich hat die Geschichte von Arnold Emsländer sofort gepackt, ich war Feuer und Flamme. Darauf konnte ich aufbauen und das motivierte mich dazu, dranzubleiben.
 
Was möchten Sie als Journalistin noch erreichen?
Ich will in erster Linie so lange wie möglich Journalistin sein können. Das ist der beste Beruf, den es gibt.
 
Weshalb?
Es werden einem sehr viele Türen geöffnet, die sonst verschlossen bleiben würden. Und man kann sie eben auch für die Leserinnen und Leser öffnen. Zudem darf man die Menschen alles fragen, was man sich privat vielleicht nich trauen würde. Es gab während meiner bisherigen Karriere bestimmt die eine oder andere Geschichte, die mich nicht gleich auf Anhieb interessiert hat. Aber wenn ich mal drin war, hat bisher noch jede Geschichte Spass gemacht.
 
Info: Andrea Butorin arbeitet seit 2011 beim Bieler Tagblatt, seit Herbst 2018 als Ressortleiterin Kontext. Sie studierte Slavistik, neuste Geschichte und Medienwissenschaften. Zudem besuchte sie die Schweizerische Journalistenschule MAZ in Luzern.
 

Über die Geschichte

In der für den Swiss Press Award nominierten Beitrag geht es um die Emsländers aus Tschugg, eine arme und kinderreiche Familie. Der Vater war deutscher Staatsangehöriger, was das Schicksal aller vier Söhne besiegeln sollte: Arnold Emsländer wird ins Deutsche Reich ausgeschafft, wo er für schwachsinnig erklärt wird und 1940 nach sechs Jahren Heilanstalt in der Gaskammer umkommt. Arnolds Brüder Ernst, Adamir und Rudolf werden von der Wehrmacht eingezogen und kämpfen im Zweiten Weltkrieg. Ernst stirbt in Frankreich, Adamir in Russland, und die Spuren von Rudolf verlieren sich im Nichts. Ihre Mutter stirbt 84-jährig und «überlebt all ihre Söhne um viele Jahre». In einem ersten Teil wird das Schicksal von Arnold Emsländer erzählt, erschienen ist der Text im September 2020 im Kontext des BT. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Geschichte der gesamten Familie, erschienen im Dezember 2020. Beim Swiss Press Award nominiert war der zweite Teil, er landete auf dem zweiten Platz. haf
 
 

Umweltskandal Blausee siegt beim Swiss Press Award

Gestern Abend fand die Preisverleihung des Swiss Press Awards statt, moderiert von «Telebielingue»-Programmleiterin Sophie Hostettler. Die Preise wurden in sechs Kategorien vergeben, eine davon ist die Kategorie «Local». Nominiert wurden jeweils drei Geschichten, darunter der Text «Wie eine Seeländer Familie alle vier Söhne an Nazi-Deutschland verliert» von BT-Redaktorin Andrea Butorin. Ihre Kontrahenten waren Julian Witschi, Marius Aschwanden und Catherine Boss von der «Berner Zeitung» mit ihrer Recherche zum Umweltskandal Blausee sowie Antoine Menusier mit dem Beitrag «La Suisse, c’est un autre monde, faut dire la vérité» über die Kluft zwischen den benachbarten Gemeinden Porrentruy und Delle an der französischen Grenze im Jura.
 
Das Rennen gemacht hat die Recherche zum Umweltskandal Blausee: Im Frühling 2020 starben dort Fische in grossem Ausmass. Die Eigentümer des Naturparks nahe Mitholz in der Gemeinde Kandergrund vermuteten, dass das Fischsterben mit der Grossbaustelle im Lötschbergtunnel zusammenhängen könnte. Diese These wurde durch die Recherche der BZ-Journalisten untermauert.
 
Laboranalysen wiesen Schwermetalle und krebserregende Substanzen im Aushubmaterial nach. Dieses wurde nicht in einer Deponie entsorgt, sondern in den naheliegenden Steinbruch gekippt, was vermutlich zum Fischsterben führte. Die Behörden bestätigen dies zwar nicht, stoppten aber die Aktivitäten und räumten ein, der Giftabfall sei illegal abgelagert worden. Tausend Tonnen Aushub wurden ausgegraben und es kam zu einem Strafverfahren.
 
Für den Jury-Präsidenten der Kategorie «Local», Sid Ahmed Hammouche, gehört diese Recherche aufs Podest: «Vor Ort sein, beobachten, überprüfen, Fakten sammeln und zum Schluss erklären: Das ist der Kern journalistischer Arbeit. Und genau dies haben Julian Witschi, Marius Aschwanden und Kathrin Boss mit Bravour gemacht.»
 
Marius Aschwanden zeigte sich bei der Verkündung begeistert. «Dieser Preis ist eine riesige Anerkennung für unsere Arbeit.» haf

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