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Kolumne

Das Ziel

Lilly hat ab heute Ferien. Die Zeit davor war geprägt von langfädigen Sitzungen und hohem Arbeitsdruck. Eine herausfordernde Zeit.

Lis
Eymann

Nun endlich stehen für sie ein paar geruhsame Tage Urlaub bevor. Ein Abstecher zu Freunden in den Bergen. Beschwingt packt sie ihre sieben Sachen und freut sich auf das ausgemachte Rendez-vous mit einer Kollegin in ihrem lauschigen Lieblingsrestaurant mitten in der Stadt zum Ferienstart. Ein perfekter Auftakt in die Ferien, denkt sie bei sich. Abends macht sie sich hübsch, zieht sich etwas Nettes über und macht sich auf den Weg. Ihre Kollegin wartet im Restaurant schon auf sie. Kaum hat sie am Tisch Platz genommen, gehts los. Die Kollegin jammert ihr den Kopf voll. Es scheint alles aus dem Ruder zu laufen, nichts scheint wirklich im Lot. Das Gejammere will kein Ende nehmen, die Stimmung entsprechend bedrückt. Vorerst versucht Lilly noch, ihrer Kollegin mit Inputs und Ratschlägen weiterzuhelfen. Die Gedanken perlen jedoch an ihr ab wie Regentropfen an einer Fensterscheibe, sie scheint wie in einer unsichtbaren Glaskugel eingeschlossen. Abgeschnitten vom Rest der Welt.

Das Essen wird entsprechend kurz, Lilly verabschiedet sich. Och, war das ein schwerer Abend, geht ihr auf der Heimfahrt durch den Kopf. Die Nacht wird unruhig, und morgens in der Früh wacht sie mit einer Schwere auf, als ob sie eine Flasche Wein für sich alleine getrunken hätte. Entsprechend das Mondgesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickt.

Wie bloss kommt man aus so einer Krise raus?, fragt sie sich während der Fahrt Richtung Alpen. Einer Krise, die so heftig am Menschen nagt, dass er für die Umwelt nicht mehr erreichbar ist und er im demütigenden Sumpf der Depression versinkt. Lilly erinnert sich an eine Begegnung. Ein Mann, der alles im Leben verlor. Seine Frau, seine Kinder, sein Hab und Gut, seinen Lebenswillen. Er war drauf und dran, alles hinzuschmeissen und seinem Leben ein Ende zu setzen. Dann entdeckte er das Gehen. Er begann Bergtouren zu machen. Einmal, 100 Meter vor dem Gipfel, völlig ausgelaugt und im Aufgeben begriffen, kam ein anderer Tourengänger heran. Wenn du diese 100 Meter nicht schaffst, schaffst du nie was im Leben, herrschte ihn dieser an. Das sass.

Er schaffte es. Erklomm die letzten 100 Meter und erreichte tatsächlich den Gipfel. Von da an hatte er sein Leben wieder. Er konnte wieder Schritte im Leben tätigen, die er sich vorher nicht mehr zugetraut hatte. Step by step gewann er wieder Boden unter den Füssen. Heute geht er nicht mehr passiv erduldend durchs Leben, sondern aktiv gestaltend. Wie der deutsche Philosoph Immanuel Kant mal sagte: «Der Ziellose erleidet sein Schicksal – der Zielbewusste gestaltet es.»

Info: Info: Lis Eymann ist Radiomoderatorin und freie Journalistin.

 

 

Stichwörter: Kolumne, Ziel, Lis Eymann, Leben

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