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Alkoholismus

«Dass mein Vater ein Alkoholproblem hat, merkte ich erst später»

Heute haben die 22-Jährige Julie* und ihr Vater eine gute Beziehung zueinander. Doch als sie ein Kind war, war er Alkoholiker. Das prägt beide bis heute.

Der 60-Jährige und seine erwachsene Tochter sprechen offen über die Krankheit des Vaters, möchten aber anonym bleiben. Bild: Matthias Käser
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Deborah Balmer

Praktisch von einem Tag auf den anderen hatte Anton* genug vom Trinken. Es war der Moment, in dem er realisierte, dass sein Leben aus den Fugen geraten war. In der Bieler Firma hatte man ihn, den Kadermann, freigestellt. 30 Jahre lang war er bereits in der Finanzbranche tätig, über zehn Jahre lang im höheren Kader. Doch der heute 60-Jährige hatte da auch bereits eine mehrjährige Alkoholikerkarriere hinter sich.

Mehrmals war ihm wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand der Fahrausweis entzogen worden. Als er eines Tages mit seinem Auto sogar betrunken auf ein Bahngleis fuhr, weil er dachte, es sei die Strasse, war dies ein Weckruf: Jetzt musste sich etwas ändern.

Der Vater mehrerer Kinder trank gern nach der Arbeit: hier ein Apéro, da eine kleine Feier oder ein Restaurantbesuch. Anton trank und verlor dabei die Kontrolle. «Ich habe Vollgas gegeben», sagte er beim Treffen mit dem BT, zu dem er mit seiner 22-jährigen Tochter Julie* gekommen ist. Als er jeweils spät abends heimkam zu seiner Familie in einem Seeländer Dorf, fiel er oft einfach mit den Kleidern ins Bett.

Am Wochenende blieb er immer nüchtern, wie er sagt. Trotzdem trennten sich er und seine Frau: «Als zehnjähriges Mädchen brach für mich eine Welt zusammen», sagt Julie, die bald die Ausbildung zur diplomierten Pflegefachfrau abschliesst. «Dass mein Vater ein Alkoholproblem hatte, realisierte ich aber erst viel später», sagt sie, die auch mal ein Glas Wein trinkt, aber durch ihre Erfahrung schnell merkt, wenn jemand im Umfeld ein auffälliges Trinkverhalten zeigt. Damals hatte sie vor allem mitbekommen, dass es zwischen ihren Eltern oft Streit gab. Sie habe unter den Wutausbrüchen des Vaters gelitten, die sich in erster Linie gegen die Mutter gerichtet haben.

«Ich war ein Lebemann»

Ihr Vater erzählt, wie schnell er jeweils getrunken habe: Fast so, als wäre es Wasser. Trotzdem sah er sich lange nicht als richtigen Alkoholiker, als einer, der den Alkohol wirklich braucht. «Ich war halt ein Lebemann, einer der den beruflichen Erfolg und das Leben genoss», sagt er. «Du warst aber schon richtig süchtig», sagt Julie, die weiss, dass es mit Scham zu tun hat, sich nicht einzugestehen, wie es wirklich um ihn stand. Anton hört aufmerksam zu, wenn sie solche Sätze sagt und lächelt.

Es ist beeindruckend, wie offen Vater und Tochter über ihre Beziehung reden und dabei auch nicht vor Abgründen Halt machen. «Ich fühle mich mit meinem Vater sehr verbunden. Kann seine Gefühle nachvollziehen – und ich erkenne mich in einigen Macken wieder», sagt Julie.

Anton erinnert sich, wie er Hilfe holte. Beim Blauen Kreuz in Biel sagte er damals aber nur die halbe Wahrheit. Er verschwieg, dass er trotz Fahrausweisentzug fast zwei Jahre lang weiter Auto fuhr. Dafür schämt er sich heute.

Doch damals schaffte er es, vom Alkohol loszukommen – ohne Medikamente – auch in einer Entzugsklinik war er nie. «Du hast eigentlich alleine einen kalten Entzug gemacht», sagt die Tochter und ergänzt: «Mein Vater hat einen sehr starken Willen, deshalb gelang ihm das.»

Wenn sie sich heute treffen, gehen sie gerne zusammen essen oder einen Kaffee trinken. Manchmal gibt der Vater der Tochter Tipps fürs Leben, versucht, seine Erfahrung weiterzugeben. Er möchte sie davor bewahren, gleiche Fehler zu machen, wie er sie gemacht hat. «Wir haben heute eine so gute Beziehung zueinander wie noch nie», sagt Julie, die zuerst eine kaufmännische Lehre begann, was ihr aber überhaupt nicht gefiel. «Die Versicherung war nicht meine Welt. Es gab dort Männer, die blöde Sprüche gegenüber jungen Frauen machten. Einige tranken ebenfalls auffallend viel Alkohol. Es waren eigentlich genauso Typen, wie mein Vater zu seinen schlimmsten Zeiten einer war», sagt sie. Beide lachen. Dieses Mal nickt der Vater.

«Alkohol und Frauen»

«Alkohol und Frauen – das war für mich viele Jahre lang eine verheerende Kombination», sagt Anton, den es heute richtig anwidert, wenn er daran denkt, wie er früher Stunden um Stunden in Beizen verbrachte, rauchte und trank. Irgendwann hatte er eine Freundin, während seine Frau mit den kleinen Kindern daheim sass. Er konnte damals nicht mehr verbindlich sein, wie er sagt.

Anton ist überzeugt, dass ihn damals keiner hätte dazu bringen können, mit dem Trinken aufzuhören. «Das musste von innen heraus kommen.» Und einmal mehr nickt seine Tochter wohlwissend. Sie sagt, dass sie sich für ihren Vater schämt, wenn sie an Episoden aus seiner Vergangenheit denkt. Gleichzeitig ist sie froh, dass nie etwas Schlimmeres passiert ist. Und auch, dass sie in der Kindheit nicht viel vom Alkoholiker mitbekommen hat, ihn etwa nie betrunken erlebt hat. «So hatte ich als Kind auch nie das Gefühl, dass ich auf ihn schauen muss.»

Anton bedauert aus jetziger Sicht, so wenig Zeit mit seinen Kindern verbracht zu haben. Damals stand der Alkohol an erster Stelle. «Das Leben draussen, der Erfolg – alles, was man von aussen sieht, war mir wichtiger.» Bis er die Wende schaffte. Seit vier Jahren hat er keinen einzigen Schluck getrunken.

* Die Namen wurden geändert

 

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