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Den Schmerz neu denken

Die Therapie nach Liebscher und Bracht ist hier noch nicht sehr bekannt. Gabriele Furhan und Ursula Arnold wollen das mit ihrer Praxis in Biel ändern. Was macht dieser Ansatz aus, warum wird er kritisiert und was kann jeder von uns gegen Schmerzen tun?

Am etablierten System rütteln: Gabriele Furhan im Einsatz.

Interview: Raphael Amstutz

Gabriele Furhan, Ursula Arnold, was ist Schmerz für Sie?
Gabriele Furhan (G. F.): Für mich ist Schmerz ein Zustand, der schnellstmöglich beendet werden sollte. Ein Mensch, der über Schmerzen klagt, muss immer ernst genommen werden. Schmerzen zu haben, bedeutet meist eine kleine bis grössere Einschränkung in der Lebensqualität und für das soziale Leben. Im schlimmsten Fall bis zum völligen Rückzug.
Ursula Arnold (U. A.): Durch Schmerzen verschafft sich unser Körper Gehör: So ist es nicht gut für mich. In der Therapie nach Liebscher und Bracht reden wir von Alarmschmerzen, der Körper will weitere Verletzungen von Strukturen verhindern. Wenn die Gefahr weg ist, geht auch der Schmerz.

Wann hatten Sie das letzte Mal körperliche Schmerzen?
U. A.: Ich praktiziere seit 15 Jahren Yoga. Trotzdem habe ich nach einem Crawlkurs Schmerzen im Nacken verspürt. Die Therapie nach Liebscher und Bracht hat mir geholfen.
G. F.: Mir ging es ähnlich. Ich erlebte früher immer mal wieder Spannungskopfschmerzen und einmal hatte ich einen Hexenschuss. Seit ich die Therapie anwende, hatte ich diese Probleme nie mehr. Wir können also sagen: Das, was wir praktizieren, nehmen wir auch für uns in Anspruch.

Wie sind Sie überhaupt zu diesem Therapieansatz gekommen?
G. F.: Ich bin in Deutschland aufgewachsen und habe dort von Liebscher und Bracht erfahren. Vor zehn Jahren habe ich nach meinem Umzug in die Schweiz in Bern eine Praxis eröffnet. Ich war die Erste in der Gegend, praktisch eine Pionierin. Nachdem ich nach Safnern gezogen bin, habe ich zuerst in Nidau gearbeitet. Und nun bin ich in Biel.
U. A.: Mich hat dieser Therapiezugang sofort interessiert, nachdem ich darüber gelesen habe. Ich wollte die Ausbildung machen und selber sehen, was da dran ist. Schliesslich habe ich Gabriele getroffen – und es hat auf Anhieb gepasst.

Warum haben wir in der heutigen Zeit immer mehr Schmerzen, obwohl unser Alltag doch weniger körperliche Belastungen mit sich bringt?
U. A.: Hohe und einseitige körperliche Belastung ist das eine, davon haben wir heute sicher weniger. Unser Problem heute ist vielmehr der Mangel an vielseitigen Bewegungen. Wir benutzen nur einen Bruchteil der Möglichkeiten, die unser Körper hätte und so entstehen «Engpässe» im Körper und Schmerzen. Unsere Gelenke werden nicht mehr ausbewegt und wir haben oft wenig Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Körpers.

Was für Menschen kommen zu Ihnen?
G. F.: In den Anfängen in Bern habe ich viel Werbung gemacht – mit Flyern oder in Zeitungen – weil die Methode hierzulande noch so unbekannt war. Nun läuft es über Mund-zu-Mund-Propaganda. Das ist sowieso das Beste: Wenn Menschen, die ein positives Erlebnis in unserer Praxis hatten, das weitererzählen und uns empfehlen.
U. A.: Einen Schub hat es gegeben, als das Buch «Die Arthrose-Lüge» während langer Zeit auf der «Spiegel»-Bestenliste stand. Dazu haben Liebscher und Bracht zahlreiche Videos auf Youtube gestellt und sind in den Sozialen Medien sehr präsent. Das hat viele Menschen neugierig gemacht.
G. F.: Nicht wenige unserer Klientinnen und Klienten erzählen uns, dass sie sich nicht ernstgenommen fühlen. Sie hören immer wieder: «Mit diesem Schmerz müssen Sie einfach leben.» Das kann es doch nicht sein.

Schmerzempfinden ist individuell und eigentlich nicht mitteilbar. Wie wissen Sie, worüber die Patientin, der Patient spricht?
U. A.: Entscheidend ist alleine das subjektive Schmerzempfinden: Wie stark bedrängt mich etwas? Wie fest schränkt es mich ein? Wir nehmen den Menschen in seinem Schmerz ernst. Das, was er empfindet, zählt.

Was machen Sie eigentlich anders als andere?
G. F.: Wir regen ein radikales Umdenken an. Der Schmerz und wie wir ihn verstehen, wird neu gedacht. Er wird nicht weiter als Anzeige einer Schädigung wahrgenommen. Vielmehr warnt er uns vor einer möglichen Schädigung und spätestens dann ist es Zeit, auf ihn zu hören und ins Tun zu kommen. Zudem ist es so, dass wir nicht einfach ein Gelenk oder einen Muskel anschauen, sondern immer das ganze System im Blick haben.
U. A.: Ein weiteres Merkmal ist, dass die Therapie einfach ist und relativ kurz dauert, in der Regel drei bis fünf Sitzungen. Es braucht Disziplin und das Mitmachen der Klientin oder des Klienten, das zeitliche Engagement ist aber überblickbar. Wir machen unsere Patientinnen und Patienten selbstständig, indem wir sie lehren, was sie selber tun können.
G. F.: Wir wollen erreichen, dass die Menschen die Angst vor dem Schmerz verlieren und Vertrauen in den eigenen Körper aufbauen. Denn schlimm ist, wie oft uns Menschen berichten: Niemand kann mir helfen. Hier sagen wir: Doch, Du kannst etwas tun. Und zwar ohne Operationen, Schmerzmittel oder sonstige Medikamente. Wir zeigen den Menschen eine Alternative auf.

Was ist eine realistische Einschätzung dessen, was Ihre Therapie leisten kann?
G. F.: Grundsätzlich gibt es keine Grenzen. Die Therapie kann bei jeder Art von Schmerz funktionieren, sie kann auch vor und nach Operationen angewendet werden. Das Ziel ist es aber natürlich, invasive Eingriffe zu vermeiden.
U. A.: Ganz wichtig ist uns der Hinweis: Es ist kein Wundermittel. Dieses Bild wird immer mal wieder suggeriert. So nach dem Motto: Nach einer Sitzung sind alle Schmerzen verschwunden. Was wir vollbringen, sind keine Wunder.

Warum ist die Therapieform in Biel noch nicht so bekannt?
U. A.: Biel gehört in dieser Beziehung zur Westschweiz. Es gibt noch keine Ausbildung in französischer Sprache. Auch ist die offizielle Website noch nicht übersetzt. Das Bedürfnis ist aber da. Ich bin überzeugt, dass sich bald einiges ändern wird.
G. F.: Wie gross das Bedürfnis ist, sehe ich täglich in meiner Praxis: Ich habe Kundinnen und Kunden, die aus Genf, Lausanne oder dem Wallis anreisen, weil bei ihnen ein entsprechendes Angebot fehlt.
U. A.: Ganz unabhängig von der Geografie ist es für manche ein Hindernis, dass die Kosten noch nicht über die Krankenkasse abgerechnet werden können. Das kann Menschen davon abhalten, einen Versuch mit uns zu wagen. Unser Verband arbeitet daran, dass unsere Leistungen in die Zusatzversicherung aufgenommen werden.

Die Therapieform steht immer wieder auch in der Kritik. Einer der Punkte: Das Fehlen von Studien, die die Wirksamkeit beweisen. Was sagen Sie dazu?
G. F.: Der Kern dieser Kritik liegt wohl darin, dass wir am etablierten System rütteln. Zum Beispiel an der Vorstellung, dass unsere Körper Maschinen ähneln, die man einfach reparieren kann. Überhaupt: Diese rein mechanische Vorstellung des Menschen, die weit verbreitet ist, lehnen wir ab. Es ist übrigens bereits eine Studie an einem renommierten Unfallkrankenhaus durchgeführt worden. Diese zeigte, dass von 20 Studienteilnehmern, die für eine Knie-OP vorgesehen waren, alle nach sechs Wochen schmerzfrei oder schmerzärmer waren und die Eingriffe absagen konnten.
U. A.: Da wir also mithelfen, Operationen zu vermeiden, ist es ganz natürlich, dass es zu Aversionen kommt, dass Misstrauen laut wird. Ich bin aber überzeugt: Das wird sich ändern, die Erfahrungen der Menschen spricht für uns.

Wie funktioniert die Qualitätssicherung?
U. A.: Grundlage ist eine Ausbildung und eine ganztägige Prüfung, die man bestehen muss. Sie beinhaltet die Manuelle Therapie, die Bewegungstherapie und die Gesundheits- und Ernährungstherapie. Die Zertifizierung wird ständig strenger. Alle zwei Jahre gibt es obligatorische Auffrischungskurse und Prüfungen. Es ist also nicht so, dass man einmal einen Abschluss macht und dann für alle Zeiten ein Diplom hat und praktizieren kann.
G. F.: Ein Orientierungspunkt für die Menschen ist das Gütesiegel zertifizierter Liebscher und Bracht-Therapeut. Da wissen die potenziellen Klientinnen und Klienten: Die können das, was sie anbieten.

Von den Ärztinnen und Ärzten gibt es wie gesagt einige Skepsis. Wie sieht es bei den Physiotherapeutinnen und -therapeuten aus?
G. F.: Es gibt durchaus auch Physiotherapeuten und Ärztinnen, die diese Therapie kennen und anwenden. Wir wünschten uns natürlich eine bessere Vernetzung und hoffen, dass das nach und nach kommen wird. Es geht ja um ein Miteinander, nicht um ein Gegeneinander.

Menschen mit Schmerzen fragen: Was kann ich selber tun? Wie lauten Ihre wichtigsten Ratschläge?
U. A.: Wir können und dürfen lernen, auf unseren Körper zu horchen. Ich nenne das, sich den Körper aneignen. Das hat viel mit Achtsamkeit und Selbstliebe zu tun.
G. F.: Bewegung. Bewegung ist der zentrale Punkt. Und zwar vielfältig. Nicht einfach «nur» joggen. Sondern zum Beispiel auch mal versuchen, Tassen in den Schrank zu stellen, wenn man mit dem Rücken zu ihm steht. Kreativ sein, spielerisch, den Türgriff mit dem Fuss drücken. Den gewohnten Rahmen verlassen. Die Qualität ist wichtig, nicht die Quantität.
U. A.: Wichtig ist auch, dass wir von Sätzen wie «Je älter man wird, desto mehr Schmerzen hat man» oder «Schmerz gehört halt einfach dazu» wegkommen.

Info: Die Praxis befindet sich an der Nidaugasse 11 in Biel, 077 922 60 07 (Gabriele Furhan), 076 586 30 80 (Ursula Arnold) oder www.schmerzfreipraxis.ch

Zu den Personen:
Gabriele Furhan ist diplomierte Pflegefachfrau für Intensiv- und Anästhesiepflege. Hier wurden ihr die Grenzen der schulmedizinischen Schmerztherapie bewusst. Bereits länger hegte sie den Wunsch nach Selbstständigkeit. Über das Buch «Der Schmerz-Code» ist sie auf Liebscher und Bracht aufmerksam geworden. Seit 2012 arbeitet sie als Schmerz- und Bewegungstherapeutin im Sinne von Liebscher und Bracht und gibt mehrmals pro Woche auch Kurse in Faszien-Yoga nach Liebscher und Bracht.
Ursula Arnold gab ihren Beruf als Physiotherapeutin auf, als sie in diesem allzu medizinischen Rahmen nicht glücklich wurde und führt heute eine Praxis für Alternativmedizin in Courroux bei Delémont. Sie ist unter anderem Yogalehrerin und medizinische Masseurin und hat die Therapieform Liebscher und Bracht dank Videos entdeckt. Ihr war klar: «Das muss ich probieren.» Arnold hat die Erfahrung gemacht, dass Therapieformen immer komplizierter werden. Liebscher und Bracht sei erfrischend einfach.

Zur Therapieform:
Roland Liebscher-Bracht hat Maschinenbau studiert und war Mitte der 80er-Jahre ein bekannter Kampfkunst-Lehrer in Deutschland. Während des Trainings fiel ihm auf, dass bestimmte Bewegungsübungen halfen, um Schmerzen kleiner zu machen oder sie ganz verschwinden zu lassen. Mit schulmedizinischen Methoden kamen die Patienten oft nicht weiter. Also machte sich Liebscher-Bracht selber auf den Weg und zeigte den Schmerzpatienten seiner Frau, der Ärztin Petra Bracht, die Übungen.
Erste Erfolge stellten sich ein. Eine Therapie war geboren. Die Idee ist ganz einfach: Wir bewegen uns zu wenig und zu einseitig. Überspannungen in den Muskeln und Faszien sind die Folge. Auf Gelenke und Muskelansätze am Knochen wird dadurch Druck ausgeübt, Rezeptoren im Körper registrieren diesen übermässigen Druck als Gefahr einer möglichen Schädigung und leiten die Information an das Gehirn weiter. Ein sogenannter Alarmschmerz wird in der Folge in die betroffene Körperregion übermittelt.
Das Ehepaar hat 72 Schmerzpressurpunkte an der Knochenhaut definiert. Durch Druck auf die Ansatzpunkte der Muskeln und Faszien löst sich die Spannung, der Schmerz wird kleiner oder verschwindet ganz. Pro Schmerzzustand werden in der Regel drei bis fünf Behandlungen durchgeführt, und zwar im Abstand von etwa 7 bis 14 Tagen. Zusätzlich führt der Patient die gezeigten Übungen regelmässig zuhause durch und ist daher aktiv am Therapieerfolg beteiligt. Die Therapiesitzungen, die rund eine Stunde dauern, kosten in etwa 180 Franken.

 

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