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Biel

«Der Chessu war mein Wohnzimmer»

Der Umbau des autonomen Jugendzentrums in Biel ist offiziell gestartet. Der letzte Besuch vor den Bauarbeiten lässt bei Politikerinnen und Kulturveranstaltern so manche Erinnerung aufleben.

Emil Mollet hilft den Anbau des Chessu abzureissen, den er 1994 mitgebaut hat. Bild: Peter Samuel Jaggi

Carmen Stalder

Die Toten Hosen, Rumpelstilz, der Wu-Tang-Clan, Burning Spear und Stephan Eicher – sie alle und unzählige mehr hat er in den letzten 40 Jahren im Chessu auftreten sehen. An ein paar Abende im Autonomen Jugendzentrum (AJZ) kann sich der Bieler Emil Mollet besonders gut erinnern. An ein Punk-Konzert beispielsweise: «Es war so laut, dass am Schluss nur noch die 15 härtesten Punks vor der Bühne standen.» Oder an den Auftritt des französischen Chansonniers und Anarchisten Léo Ferré. Der Künstler trat mitsamt Flügel im Chessu auf – und im Publikum sassen neben den üblichen Gästen auch ein paar Damen im Pelzmantel.

Mollet gehört zum Chessu und der Chessu zu ihm seit er 15 oder 16 Jahre alt ist, so genau weiss es der mittlerweile 59-Jährige nicht mehr. Zuerst besuchte er das Lokal als Konzertgänger, dann engagierte er sich selbst im AJZ und von 1994 bis 1996 half er bei der ersten Sanierung, bekannt als «Chessu»-Reno, mit. Als ausgebildeter Maurer war er damals in der Gruppe von über 100 Freiwilligen ein gefragter Mann. Nun steht die nächste grosse Veränderung an – und Mollet ist immer noch dabei, dieses Mal als Präsident der AJZ-Baukommission.

Politikerinnen zeigen sich

Gestern Nachmittag wurden die seit Jahren angestrebten Bauarbeiten offiziell lanciert – mit einigen Vertreterinnen und Vertretern aus der Bieler Kulturszene, mit einem Bierwagen und mit einem letzten wehmütigen Rundgang durch die vor Geschichte triefende Kuppel, die auch noch Wochen nach der letzten Party ihren Geruch nach Rauch und verschüttetem Bier nicht ganz losgeworden ist.

Von den für den Umbau und die Erweiterung des Gaskessels nötigen 4,5 Millionen Franken stammt über die Hälfte (2,8 Millionen) von der Stadt Biel. Entsprechend viele Politikerinnen und Politiker lassen sich zum Spatenstich blicken. Mit Helmen ausgerüstet klettern Stadtpräsident Erich Fehr (SP) und die beiden Gemeinderätinnen Lena Frank (Grüne) und Silvia Steidle (PRR) aufs Vordach. So viele schöne Abend und Nächte habe sie hier verbracht, sagt Frank. «Der Chessu gehört einfach zur DNA von Biel», meint Steidle. Schliesslich ist es Emil Mollet, der als erstes den Presslufthammer in die Hand nimmt und nach einem lauten Ausruf losbohrt. Ein wenig vermisse er die frühere Baustelle mit ihrem tollen Groove schon, sagt er später. Damals hätten noch mehr Menschen mitgeholfen als heute.

«Der Chessu war früher an den Wochenenden mein Wohnzimmer», sagt Mollet. Er steht im Eingangsbereich und zündet sich eine Zigarette an. Blickt auf die Mauern, die über und über mit Graffitis und Tags bemalt sind. Schaut zur Verkaufsecke, in der die berühmt-berüchtigte Chessu-Pizza, mit einer Schere in Stücke geschnitten, verkauft wurde. Den autonomen Betrieb habe er stets als wertvoll gesehen, zusammen etwas erleben und organisieren zu können, ohne dass einen von oben jemand herumkommandiert – das hat für Mollet den Reiz des AJZ ausgemacht, und das tut er noch heute. «Der Ort ist immer von den Leuten abhängig, die ihn prägen», sagt er. Und er ist zuversichtlich, dass es mit dem Chessu auch nach dem Umbau weitergehen wird, vielleicht anders, aber immer noch gut.

Zweifel und Vorfreude

Andere sind da etwas skeptischer. Rafael Wingeyer beispielsweise, der unter seinem Künstlernamen Renb1 ein paar Chessu-Wände verziert hat. Zuletzt mit einer comic-haften Tomate, die einen mit grossen Augen anschaut. «Sie zeigt meine Freude, dass es weitergeht mit dem Chessu, aber auch die Angst vor der Zukunft», so Wingeyer.

Ein paar Veranstalter, die bis vor ein paar Jahren regelmässig Konzerte und Partys in der Coupole organisiert haben, fragen sich, ob der Chessu wirklich bleibt, wie er ist.

Ob auch künftig junge Leute dazu bereit sein werden, so viel Herzblut in das AJZ zu stecken, wie sie es während so langer Zeit getan haben? Und ob der Chessu in Zukunft überhaupt noch auf Akzeptanz stossen wird, inmitten all dieser Neubauten aus Glas und Beton und direkt neben einem sich im Bau befindlichen Hotel?

Während die vier Männer draussen im kalten Novemberwind über die guten alten Zeiten schwärmen, kommt ein lauter Motor zum Laufen. Ein Kran hebt den ikonischen Jaguar vom Vordach auf einen Transporter. Das rostige Auto kommt vorübergehend bei der Brasserie des Franches Montagnes (BFM) in Saignelégier unter und soll bei der voraussichtlichen Wiedereröffnung des Chessu 2023 zurück nach Biel gebracht werden (das BT berichtete). Spätestens als das Auto weg ist, wird klar: Jetzt geht es los! Und das sei doch vor allem ein Grund zur Freude, sagt Beat Junker vom AJZ. «Die Erinnerungen werden bleiben. Aber jetzt wird ein neues Kapitel aufgeschlagen.»

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