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Biel

«Der einzige Weg, der Arbeit und Brot bringt»

Vor 75 Jahren ist das Ende des Zweiten Weltkriegs noch in weiter Ferne. Trotzdem macht sich im BT-ein Redaktor bereits Gedanken über die Nachkriegszeit. Er fordert staatliche Organisationen, um nach Kriegsende den Export für kleine und mittlere Unternehmen zu fördern.

Montage eines Differenzialgetriebes, Stirnrad mit Pfeilverzahnung in einer unbekannten Maschinenfabrik in den 40er-Jahren. Copyrigth Bieler Tagblatt / Bildarchiv ETH-Bibliothek Zürich
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von Peter Staub

Neben den dominierenden Nachrichten über den Verlauf des Zweiten Weltkrieges fällt die Titelseite des «Bieler Tagblatt» am 19. Februar 1943 besonders auf. «Und sie versprechen das Blaue vom Himmel herab», lautet die Schlagzeile. Unter dem so angerissenen Leitartikel berichtet «das erste in der Schweiz eingetroffene Funkbild von den Schlusskämpfen auf Buna», wo australische Infanteristen mit automatischen Waffen «in den Dschungelwäldern das Gelände von den sich zurückziehenden japanischen Truppen» säubern, wie es in der Legende des Fotos aus Neuguinea heisst. Auch der russische Vormarsch in der Ukraine nimmt viel Platz ein.

Stalingrad als Wendepunkt

Aber: Der Leitartikel widmet sich den kommenden Nationalratswahlen, da «dieses grosse politische Ereignis seine Schatten voraus» werfe. Tatsächlich finden diese Wahlen erst am 31. Oktober statt. Aber dem Autor des Leitartikels geht es darum, noch weiter in die Zukunft zu schauen. Dass er dies gerade jetzt tut, hat mit dem Kriegsverlauf zu tun.

Die vernichtende Niederlage der deutschen Wehrmacht in Stalingrad gilt heute als entscheidender militärischer Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Bereits am 2. Februar 1943, als die letzten Einheiten der sechsten Armee der Wehrmacht gegenüber der Roten Armee kapitulieren, wird dies von den Alliierten als Zeichen des Wandels zum Besseren gewertet. Das hat auch damit zu tun, dass Hitler ein halbes Jahr zuvor die Losung herausgibt, in Stalingrad die «noch verbliebene lebendige Wehrkraft» der Sowjets «endgültig zu vernichten». Auch Nazi-Propaganda-Minister Goebbels spricht im September 1942 von einer «Frage auf Leben und Tod», und dass das Prestige der Nazis im «stärkstem Masse» vom Ausgang der Schlacht um Stalingrad abhänge.

«Grosse Prinzipfragen»

Dennoch ist es bemerkenswert, dass sich der Leitartikel-Schreiber im «Bieler Tagblatt» bereits knapp zwei Wochen nach der Kapitulation in Stalingrad, also immer noch mitten im Krieg, Gedanken über die Zeit nach dem Schlachten macht. Der Redaktor mit dem Kürzel Br schreibt gegen die «mächtige Propaganda» einiger Parteien an, «die mit grossen wirtschaftlichen Prinzipfragen um sich werfen und beim einfachen Volk den Eindruck erwecken, es handle sich im Grunde um Kleinigkeiten, die die ‹legendären aber nun etwas alt gewordenen Parteien› seit Langem hätten verwirklichen können, wenn sie nur den Willen dazu gehabt hätten».

Wer sich hinter dem Kürzel Br versteckt, geht aus dem Impressum nicht hervor. Dort werden bloss drei Redaktoren aufgeführt. Neben dem Chefredaktor Werner Bourquin sind dies Albert Tanner und «Dr. Robert Bauder». Da Bourquin seine Artikel mit W. B. oder Bq. zeichnet und Tanner weder ein B noch ein R als Initialen aufweist, kann der Autor des Leitartikels nur der 27-jährige Robert Bauder sein. Das würde auch zum Inhalt des Artikels passen, der gänzlich freisinnigem Gedankengut verpflichtet ist. Denn Bauder startet nach seinem Engagement als BT-Redaktor eine steile politische Karriere. 1946 wird er Generalsekretär der Freisinnig-Demokratischen Partei der Schweiz. Im gleichen Jahr zieht er in den Bieler Stadtrat und in den Grossen Rat ein. Von 1949 bis 1954 ist er nebenamtlicher Gemeinderat von Biel. Und ab 1954 amtet er während 26 Jahren als Regierungsrat. Bloss im Nationalrat bleibt er nicht lange, nämlich bloss ein Jahr, vom 6. Dezember 1954 bis am 4. Dezember 1955.

Respekt für politische Gegner

Br verfügt über eine spitze Feder, etwa wenn er sich darüber beklagt, dass sich die Propaganda «keinerlei Mühe gibt, die im Volke dadurch hervorgerufenen Unklarheiten zu beseitigen, dass sie nicht von klaren, eindeutigen Tatsachen ausgeht». Aber Br respektiert seine Gegner. Auch Sozialisten wie Max Weber, der in der sozialdemokratischen «Berner Tagwacht» einen «Lösungsversuch für die Nachkriegsorganisation der Wirtschaft in Aussicht» gestellt habe, «ohne darüber bestimmte Angaben zu machen». Weber lasse immerhin durchblicken, «dass auch dieser Versuch sich nur in der Richtung der Garantierung eines sicheren Auskommens für jeden bewegen könne».

Damit ist der Autor des Leitartikels zwar nicht einverstanden. Aber er wolle in keiner «Weise die moralische oder soziale Berechtigung dieser Postulate in Zweifel stellen», schreibt er. Und dann liefert er über zwei Spalten ein freisinniges Plädoyer für den freien Handel: Auch jene, die solche Propaganda betrieben, «wissen so genau wie wir, dass die Schweiz nur zu Reichtum und Wohlstand gelangen kann, wenn ihr Aussenhandel blüht, dass sie als rohstoff- und nahrungsarmes Land uns nur in normaler Weise zu ernähren vermag, wenn es gelingt, unsere Zufuhren aufrecht zu erhalten und sie aus laufenden Einkünften zu bezahlen», schreibt er.

Der Anteil des schweizerischen Exports am «Welthandelsaufkommen» liegt im Jahr 1943 gemäss BT bei «etwa 1 Prozent». Heute ist er mit rund 1,8 Prozent fast doppelt so hoch. Der BT-Redaktor ist mit der damaligen Verkaufsförderung des Staates unzufrieden. Dass die Qualitätsvorsprünge nur dadurch erreicht würden, «dass wir die freie Unternehmerinitiative unangetastet lassen», habe das BT schon dargelegt. Weniger gut sei es allerdings um den Aufbau einer schlagkräftigen Verkaufsorganisation bestellt: «Es ist nicht unbekannt, dass unsere Gesandtschaften und Konsulate in dieser Hinsicht und nicht überall und nicht unbedingt auf der Höhe sind, und daraus ergibt sich, dass hier und nur hier vorbehältlich einer Beschränkung von Konkurrenzauswüchsen, das Gebiet zum Ausbau der Nachkriegswirtschaft liegen kann.»

«Sehr schöne Aufgabe»

Während die Grossunternehmen aus eigener Kraft den Export organisieren könnten, seien die kleinen und mittleren Unternehmen «weder finanziell noch personell in der Lage, eigene, weltumspannende Verkaufsorganisationen aufzuziehen», ohne die sie stets auf ausländische Unternehmungen angewiesen wären, die einen ansehnlichen Teil des Gewinns für sich beanspruchen könnten». Hier «liegt für den Staat eine sehr schöne Aufgabe». Staatliche Institute für eine wissenschaftliche Analyse der internationalen Absatzmärkte seien die «unweigerliche Voraussetzung, sie allein könnten eine auf langeSicht konsequente Exportförderung einleiten und durchführen». Damit habe er den «einzigen Weg aufgezeigt, der uns auf lange Sicht nach dem Krieg Arbeit und Brot bringen kann», schreibt Br.

Es gebe «kaum etwas Unsinnigeres, als glauben zu wollen, dass der Staat gleich einem Zauberer, einzig durch seine Eingriffe, einem jeden in alle Zukunft hinein sozusagen eine ‹Staatsstelle› verschaffen könne, ohne dass er selber etwas zu leisten hätte.»

Der Leitartikel schliesst mit den Worten: «Vermehrte Anstrengungen jedes einzelnen, vermehrte rationelle und konsequent unterbaute Exportförderung durch den Staat und möglichst rasche Anpassung an die wirtschaftlichen Bedingungen unserer grossen Nachbarn allein können uns den Weg in eine gesicherte Zukunft weisen.»

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