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Biel

In der Krise hat das Stadtparlament vorerst nichts zu sagen

Das Versammlungsverbot gilt auch für die Parlamente: Der Bieler Stadtrat ist deshalb bis auf Weiteres nicht beschlussfähig. Der Gemeinderat regiert solange alleine. Und kann Entscheide fällen, die normalerweise einer Volksabstimmung bedürften.

Bild: bt/a

Lino Schaeren

Am 15. März hat das eidgenössische Parlament die Frühlingssession aufgrund der Coronakrise abgebrochen. Seither ist die oberste Gewalt im Land aus dem Spiel, der Bundesrat regiert per Notrecht alleine. Gerade noch durchgerutscht ist hingegen die Frühjahrssession des Grossen Rats des Kantons Bern, die am 12. März zu Ende ging. Der Bieler Stadtrat hingegen hat seine Sitzung vom 18. und 19. März absagen müssen, auch am 8. April wird nicht getagt, die Kommissionssitzungen ruhen ebenso. Das Stadtparlament ist nicht mehr beschlussfähig: Zirkularbeschlüsse sind nach kantonalem Recht nicht zulässig, technische Lösungen wie Videokonferenzen sind in der Geschäftsordnung des Stadtrats nicht vorgesehen. Somit ist in Biel derzeit die Stadtregierung als einziges politisches Gremium handlungsfähig. Sie regiert, wenn es nottut, alleine.

So hat der Gemeinderat gestern entschieden, in Anwendung von Notrecht eine ehemalige Fabrik an der Mattenstrasse für 8,5 Millionen Franken zu kaufen. Ein Entscheid, den eigentlich am 17. Mai das Stimmvolk an der Urne hätte fällen müssen. Weil das Stadtparlament nicht tagen kann und der Bund die Abstimmung vom 17. Mai gestrichen hat, hat der Bieler Gemeinderat über die Köpfe von Parlament und Stimmvolk hinweg entschieden.

Notrecht betrifft Agglolac nicht

Grund dafür ist die Dringlichkeit des Geschäfts. Das Vorkaufsrecht für das ehemalige Fabrikgebäude an der Mattenstrasse 90 läuft Ende Mai aus. Und das kann sich die Stadt eigentlich nicht leisten: Sie ist dringend auf zusätzlichen Schulraum angewiesen, der kurzfristig zur Verfügung steht. In der einen Hälfte des Industriekomplexes ist bereits eine Schuleinheit eingebaut, nun soll diese nach dem Kauf der Anlage erweitert werden. Sieben Millionen kostet die Liegenschaft, 1,5 Millionen der Umbau.

Es könnte nicht das letzte Geschäft gewesen sein, dass der Gemeinderat per Notrecht auf eigene Faust beschliesst: Die Spitzen von Stadtrat und Gemeinderat haben das Notrecht an einer Videokonferenz vergangene Woche beschlossen und sind sich laut einem Schreiben des Ratssekretariats an alle Parlamentsmitglieder einig, was dies bedeutet: Der Gemeinderat trifft die zwingenden und unaufschiebbaren Entscheide.

Grundsätzlich könnte die Stadtregierung also in dieser Krise auch Massnahmenpakete schnüren, die über 300000 Franken lägen und eigentlich vom Stadtrat abgesegnet werden müssten. Stadtpräsident Erich Fehr (SP) bestätigt dies, beschwichtigt aber zugleich: «Derzeit sind nebst dem Gebäudekauf an der Mattenstrasse keine Geschäfte in Sicht, die eine Anwendung des Notrechts erfordern würden», sagt er. Der Gemeinderat wird also nicht über weitere Sachgeschäfte entscheiden, die sich nun aufstauen, da der Stadtrat nicht tagt. Nicht über die neue Stadtordnung, nicht über Reglemente und auch nicht über die Überbauung Agglolac, die eigentlich im Mai im Parlament behandelt werden soll. Ganz einfach, weil diese Geschäfte nicht unaufschiebbar sind.

Keine Notstand-Klausel

Trotzdem stellt sich die Frage, aufgrund welcher rechtlichen Grundlage die Stadtregierung in einer Krise Aufgaben des Parlaments übernimmt, ohne von diesem eine entsprechende Vollmacht erhalten zu haben. Andere Gemeinden haben diese Situation in der Gemeindeordnung geregelt – so verfügt etwa die Stadt Bern in ihrer Gemeindeordnung über eine Notstand-Klausel. Diese besagt, dass der Gemeinderat ohne gesetzliche Grundlage für den Stadtrat übernehmen könne, wenn «Gefahr im Verzug» ist. Die Bieler Stadtordnung kennt keine solche Klausel. Fehr erklärt das damit, dass die Notrechtslösungen in der Schweiz grundsätzlich auf den Kriegsfall, auf Naturkatastrophen oder einen Atomunfall ausgelegt seien. Nicht aber auf eine Pandemie, während dieser es nicht mehr möglich ist, sich in Gruppen zu treffen.

Dass der Bieler Gemeinderat jetzt vorerst alleine herrscht, ist jedoch durch den Kanton gestützt. Dieser hat in einem Schreiben für die Gemeinden festgehalten, dass Parlamentssitzungen unter das vorerst bis am 19. April gültige Versammlungsverbot fallen, das der Bundesrat verordnet hat. Deshalb, schreibt der Kanton weiter, müsse es bei unaufschiebbaren Geschäften möglich sein, dass der Gemeinderat übernimmt. «Sonst ist das Funktionieren der Gemeinde nicht mehr gewährleistet.»

Dass dies nun ohne die Legitimation des Stadtrats geschehen ist, gefällt dem Bieler Stadtpräsidenten dennoch nicht: «Im Kriegsfall wählt schliesslich auch die Bundesversammlung den General und erteilt der Landesregierung die Vollmachten», sagt Fehr. Der Gemeinderat hoffe, dass der Stadtrat so bald wie möglich wieder zusammenkommen könne. Per Notrecht zu regieren, sei zwar schon möglich, so Fehr, «aber das ist systemwidrig». Der Stadtpräsident sagt: «Auch in Krisenzeiten muss eine gewisse parlamentarische Kontrolle sichergestellt werden.»
«Massvoll anwenden»

Von den Parteien wird der Bieler Gemeinderat in seinem derzeitigen Handeln unterstützt. «Ich stehe 150 Prozent dahinter, wie die Stadtregierung bislang mit der Krise umgeht», sagt Christoph Grupp, Chef der Grünen-Fraktion im Stadtrat. Und SVP-Fraktionspräsidentin Sandra Schneider glaubt: «Der Gemeinderat wendet das Notrecht massvoll an.» Das findet auch Susanne Clauss, Mitglied des Stadtratsbüros und Co-Präsidentin der Bieler SP. Sie kritisiert aber, dass das Parlament auf unbestimmte Zeit ausser Kraft gesetzt ist. Clauss findet: Wenn es den Stadtrat jetzt nicht brauche, sei das Parlament in einer Nicht-Notlage erst recht infrage gestellt. «Gerade in einer Krise soll der Stadtrat für die Bevölkerung sprechen können, das ist Demokratie. Wir sind nicht nur Dekoration», so Clauss.

Ihre Partei hat deshalb gestern dem Gemeinderat einen Forderungskatalog zukommen lassen, da derzeit auch keine parlamentarischen Vorstösse eingereicht werden können. So fordert die SP von der Stadtregierung etwa, dass diese Kultur- und Sportorganisationen zinslose Darlehen anbietet, um deren Liquidität zu sichern. Ganz kleine Betriebe, etwa Einzelkünstler, sollten zudem Finanzhilfe im Sinne eines bedingungslosen Grundeinkommens erhalten, da sie Darlehen sowieso nicht zurückzahlen könnten. Co-Präsidentin Clauss sagt: «In einer solchen Notsituation geht es mir als Stadträtin auch darum, dass das Geld in meinem politischen Sinne gerecht verteilt wird.»
Auch Grupp fragt sich, wie lange ein Parlamentsbetrieb einfach ausgesetzt werden kann. Er verweist wie Clauss darauf, dass es nicht nur die Gemeinderatsgeschäfte gibt, sondern auch die Traktandenliste des Stadtrats: Die parlamentarischen Vorstösse. Trotzdem stellt der Grünen-Fraktionschef das Vorpreschen der SP zumindest teilweise infrage. «Wir sollten viel mehr wie auf Bundesebene schauen, wie wir allenfalls ausserordentlich tagen könnten.»

Sitzung in der Sporthalle?

Tatsächlich soll das eidgenössische Parlament zu einer Sondersession einberufen werden. Der Bundesrat hat entsprechende Schritte unternommen. Das Parlament soll über die Finanzierung der Notmassnahmen und den Einsatz der Armee beraten. 28 Ständeräte aller Parteien haben gestern mehr verlangt: Sie wollen das Parlament Anfang Mai einberufen, sie wollen grundsätzlicher über das Notverordnungsrecht diskutieren. Kommen National- und Ständerat wieder zusammen, dürfte dies auch die Grundsatzfrage, ob der Parlamentsbetrieb von der starken Einschränkung der Versammlungsfreiheit betroffen ist, neu stellen. Wieso sollte der 200-köpfige Nationalrat tagen dürfen, während der 60-köpfige Bieler Stadtrat dem Versammlungsverbot untersteht?

Fehr glaubt, dass der Bieler Stadtrat wie auch das nationale Parlament unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln ausserordentlich tagen könnte. Nicht im Ratssaal, aber allenfalls in einer Sporthalle oder im grossen Saal des Kongresshauses. Es wäre indes nicht das erste Mal: Als der Stadtratssaal vor rund zehn Jahren umgebaut wurde, hat der Stadtrat bereits einmal mehrere Sitzungen in der Neumarkt-Sporthalle abgehalten. Der Stadtpräsident plädiert auch deshalb für ein möglichst baldiges Zusammentreten des Parlaments, damit die Regierung Rechenschaft über die in der Krise getroffenen Entscheide ablegen könne. «Das ist mir ganz wichtig», sagt Fehr.
Darüber, inwiefern die Rechtsgrundlagen der Stadt für den Umgang mit Krisen wie der Coronavirus-Pandemie angepasst werden müssen, wird wohl erst nach überstandener Notlage eingehend diskutiert. Lena Frank (Grüne), Präsidentin der Geschäftsprüfungskommission, findet jedenfalls, dass man aus der jetzigen Situation lernen müsse: «Der Stadtrat sollte nicht so einfach durch ein Versammlungsverbot ausgehebelt werden können.» Man müsse die Gesetzestexte so anpassen, damit das künftig nicht mehr möglich sei.

Stichwörter: Biel, Stadtparlament, Notrecht

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