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Benin

Der Kulturschock kommt erst am Ende

Für ihr Studium reist eine Nidauerin nach Westafrika. Am Strand entdeckt sie ausgelassene Lebensfreude, auf dem Land eine abenteuerliche Beerdigung.

Eine Verkäuferin deckt sich mit Trink-
wasserbeuteln für den Markt ein.

Nicole Bolliger

Als grosse, stinkende Stadt und wirtschaftliches Zentrum Benins wird Cotonou in den Reiseführern beschrieben. Zwei Monate verbringe ich in der westafrikanischen Stadt, um Daten für meine Masterarbeit zu erheben. Vor der Abreise aber überwiegt die Neugier, denn es sind auch Begriffe wie «belebt», «vibrierend» und «gute Restaurants mit scharfen Speisen», welche die Charakterisierungen der Stadt prägen. Am meisten freue ich mich allerdings, endlich mit der Datensammlung für meine Masterarbeit zu beginnen (siehe Artikel auf Seite 3).

Der Regen, der auf das Blechdach des Nachbarhauses vor meinem Fenster prasselt, weckt mich am Morgen. Es ist Regenzeit. Etwas müde von der neunstündigen Reise und der späten Ankunft in der westafrikanischen Stadt Cotonou, vergrabe ich mich in meinen Roman, der von einer jungen Frau handelt, die von der Schwiegermutter der schwarzen Magie bezichtigt wird. Der Roman ist ein Abschiedsgeschenk meiner Mutter. Er bietet mir einen Einstieg in die neue Kultur, denn in den nächsten zwei Monaten befinde ich mich in der Wiege der Voodoo-Religion. Erst als ich das Buch fertig gelesen habe – ich habe es regelrecht verschlungen –, fühle ich mich bereit, das Leben in Benin zu starten. Und ich merke, wie viel Hunger ich eigentlich habe.

Frisch gepresster Ananassaft, Baguette, gesalzene Butter und Konfitüre stärken mich für meine heutige Mission: der Kauf einer SIM-Karte beim nahegelegenen Telefonanbieter. Wegen des Regens funktioniere das Registrierungssystem zur Zeit nicht, teilt mir die Verkäuferin im MTN-Laden mit. Ich solle doch gegen Abend nochmals vorbeikommen. Und so verkrieche ich mich wieder in meinem Zimmer, mit einem neuen Voodoo-Roman.

Nach langem Warten klappt es beim Eindunkeln doch noch, eine SIM-Karte für umgerechnet zwei Rappen zu kaufen und ein Internetabonnement mit unlimitiertem Zugang für 40 Franken pro Monat zu lösen. Gemäss meiner Erfahrung in Afrika wird hier auf Pünktlichkeit nicht so viel Wert gelegt. Deshalb mache ich mir keine Gedanken, dass ich 15 Minuten verspätet zu meiner ersten Verabredung mit einer mir noch unbekannten Forscherin eintreffe. Die Französin allerdings ist pünktlich, und ich habe ein schlechtes Gewissen.

 

Der Markt gleicht einem Labyrinth

Sie hilft mir vor Ort mit Kontakten und praktischen Tipps, mein Forschungsvorhaben erfolgreich auf einem der grössten Märkte Westafrikas umzusetzen. So begleitet mich am nächsten Tag ihr Nachtwächter auf den 22 Hektar grossen Dantokpa-Markt, wo ich die Umfrage durchführen werde. «Touristen» wird empfohlen, den ersten Marktbesuch nicht alleine zu unternehmen, da die verwinkelten Gassen einem wahren Labyrinth gleichen.

Nach zwei Wochen im Guesthouse habe ich genug. Ich finde in Fidjirossé ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft mit zwei Franzosen in meinem Alter. Das Quartier am westlichen Rande der Stadt am Meer, wo die Mittelklasse Cotonous lebt, bleibt zum Glück von den vielen Überschwemmungen verschont – ein wichtiges Auswahlkriterium bei der Wohnungssuche.

Am ersten Sonntagmorgen unternehme ich einen Spaziergang am nahegelegenen Strand. Es ist halb neun Uhr, überall werden Fussballmatches ausgetragen und Fitnesssportler motivieren sich gegenseitig zu Höchstleistungen. Etwas anderes erregt jedoch meine Aufmerksamkeit: Dort, wo die Stadt ans Meer grenzt, fast schon in den Wellen, ziehen sich wie Perlen an der Kette Punkte dem Strand entlang. Erst beim genaueren Hinsehen wird mir klar, dass dies Menschen sind, die dort ihre Notdurft verrichten. Etwas beschämt spaziere ich in die andere Richtung.

Die sanitären Einrichtungen in Benin sind mangelhaft. Nur gerade 35 Prozent der städtischen Bevölkerung haben Zugang zu sanitären Anlagen. Und so ist es auch keine Überraschung, dass man in den Strassen oft urinierende Männer sieht, trotz der vielen Verbotsschilder und Warnhinweise, wonach öffentliches Urinieren mit einer Busse von 5000 CFA geahndet wird. Das sind ungefähr 16 Franken, was fünf einfachen lokalen Mahlzeiten entspricht. CFA ist die Abkürzung für Franc de la Communauté Financière d’Afrique. Das ist die Währung der westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion zu der neben Benin auch Burkina Faso, die Elfenbeinküste, Guinea-Bissau, Mali, Niger, Senegal und Togo gehören.

 

Yovo, Yovo!

Der Strand bietet am Sonntag einen kuriosen Anblick: Viele Liebespaare haben sich auf Tüchern oder Plastikstühlen für das traditionelle Sonntagspicknick eingerichtet. Mit aus Frankreich importierten Waren sollen die Liebsten beeindruckt werden. Champagnerkorken knallen und laute Musik tönt aus den vielen mitgebrachten Musikboxen. Pferde- und Quadbesitzer versuchen, mit ihren Angeboten für Ausflüge oder dem Posieren für ein Foto etwas Geld zu verdienen. Inmitten dieses Treibens thront ein wieder zusammengebautes Flugzeug, das auf den Strand abgestürzt war. Auf seinem Sockel wirkt es etwas fehl am Platz.

Trotzdem schlendere ich gerne dem Strand mit seinen unzähligen kleinen Bars entlang, um den Tag ausklingen zu lassen. Die Weite des Meeres und die leichte Meeresbrise tun gut nach einem Tag auf dem Markt, wo ich meiste Zeit der ersten drei Wochen verbringe. Mittlerweile habe ich meine Verhandlungskünste für die Fahrt auf dem Motorrad, die hier Zem – zu Deutsch: «Es muss schnell gehen» – genannt werden und als Taxis fungieren, verbessert. Ich habe keine Mühe mehr, ein Zem stehenzulassen, weil dessen Chauffeur meint, er könne die blonde Europäerin mit ihrem weissen Helm für die 15-minütige Fahrt von der Wohnung zum Markt abzocken.

Auch auf dem Markt komme ich mit dem Gedränge und den ständigen Verkaufs- oder Gesprächsverwicklungsversuchungen mit dem Ziel die Handynummer von einem «Yovo» – der oder die Weisse – zu ergattern, zurecht. Sobald jemand eine Handynummer hat, ruft er jeden zweiten Tag an, um sich zu erkundigen, wie es einem geht. Ein «Ça va, je vais bien», reicht oftmals aus, um das Telefonat zu beenden. Der Austausch unter den weiblichen Yovos, wie man sich davor drückt, die Handynummer rauszugeben, ist dann auch rege. Mühe bereitet mir jedoch bis zum Schluss der Reise die Formulierung: «Tu me dois ...». Das ist eine gängige Formel, um den Preis von etwas nennen. Diese fordernde Art einem Kunden gegenüber ist mir fremd.

 

Die Jungen träumen noch

Neben meiner Forschungsarbeit auf dem Markt reicht die Zeit meines Aufenthalts aus, das für Afrika kleine Land – es ist knapp dreimal so gross wie die Schweiz und hat etwas mehr als elf Millionen Einwohner – zu erkunden. Zuerst besuche ich die gemäss Lonely-Planet-Reiseführer grösste Pfahlbausiedlung Afrikas. Ganvié ist im 17. Jahrhundert entstanden, als sich die Menschen im Uferbereich des Sees vor den Sklavenjägern versteckten, da diese aus religiöser Überzeugung keine Raubzüge auf dem Wasser unternahmen. Heute verdienen die Einheimischen ihren Lebensunterhalt mit dem Fischfang.

Die Jungen träumen noch. In den Wasserstrassen kommen uns Skiff-Ruderboote entgegen. Ihr Traum, Ruderer zu werden, ist noch nicht verblasst. Richtiges Geld lässt sich jedoch mit dem illegalen Benzinhandel über das Lagunensystem mit Nigeria verdienen. In den Strassen Cotonous sind denn auch überall inoffizielle Tankstellen zu finden, die billiges Benzin von schlechter Qualität verkaufen. Das freut Auto- und Motorradfahrer mit einem kleinen Portemonnaie, aber die Lungen der Bewohner Cotonous leiden unter der schlechten Luftqualität.

Eine Stunde westlich von Cotonou liegt der Hafen von Ouidah. Er war zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert Ausgangspunkt für zwei Millionen Männer, Frauen und Kinder, die in Handelsschiffen als Sklaven nach Amerika verschifft wurden. Die Besichtigung der noch bestehenden Infrastruktur war für mich sehr beeindruckend, da der atlantische Sklavenhandel in meiner Ausbildung ein sehr präsentes Thema war.

Zahlreiche Befreite kehrten nach der Abschaffung der Sklaverei zurück nach Afrika. Unzählige kulturelle, architektonische und kulinarische Parallelen zwischen Brasilien und Benin zeugen davon. In der Hauptstadt Porto Novo könnte man sich in Brasilien fühlen, da viele Rückkehrer beim Aufbau der beninischen Städten beteiligt waren. Viele Tänze und Rituale wie etwa der Voodoo-Kult wurden durch den Kulturaustausch exportiert, beeinflusst und wieder importiert. Gemäss einem Touristenführer von Porto Novo bekennen sich viele Einwohner neben dem Glauben ihrer Vorfahren auch gleichzeitig zum Christentum oder zum Islam.

Vor meiner Rückreise bleibt mir noch eine gute Woche Zeit. Die 250 Interviews auf dem Markt habe ich durchgeführt und die Sehenswürdigkeiten im eher dicht besiedelten, 121 Kilometer langen Küstenstreifen im Süden besichtigt. Da ergibt sich die Gelegenheit, an einer Beerdigung des Grossvaters eines Freundes im Norden Benins teilzunehmen. Ganz nach dem Motto «Je älter der Verstorbene, desto grösser das Fest» erwarten mich mehrere Tage im Ausnahmezustand. Denn der Verstorbene wurde 95-jährig und war einer der besten Jäger der Stadt Banté.

Höhepunkt ist der Umzug durch die Stadt, bei dem das Leben des Verstorbenen nachgespielt wird. In diesem Fall ist es die Jagd. Mit 100-jährigen Schrotflinten inszenieren Freunde, die aus verschiedenen Ländern angereist sind, und Familienmitglieder eine abenteuerliche Löwenjagd. Im Innenhof des Familiensitzes wird die ganze Nacht getanzt, gesungen und getrunken, vor allem Sodabi, ein Palmweinschnaps und Tchoucoutou, das lokale Hirsebier. Ich genoss es, für einmal nicht wegen meiner Hautfarbe im Zentrum zu stehen. Obwohl man auch hier nicht darum herumkommt, von einer Schar Kinder umgeben zu sein, die nur darauf wartet, dass ich die Pet-Flasche leer trinke und sie ihnen gebe, sodass sie diese weiterverkaufen können.

 

Mit Google Maps durch die Savanne

Die Internetverbindung ist stets gut – ich habe immer 3G- oder 4G-Empfang. Und dank Google Maps finde ich mich überall zurecht. Auch in den abgelegensten Gebieten kann ich, wenn nötig, dem Zem-Chauffeur den Weg auf den schmalen Pfaden in der Savanne auf meinem Smartphone weisen.

Zu Beginn meiner Reise ist der Kulturschock ausgeblieben. Als ich mich jedoch am zweitletzten Tag meines Aufenthalts noch in den riesigen französischen Einkaufskomplex «Super U» traue und die kitschige, blinkende und funkelnde Weihnachtsdekoration sehe und mich ein «Merry-Christmas»-Song berieselt, fühle ich mich mit dem Zusammentreffen der zwei Kulturen überfordert. Der Anblick der Lindt-Schokolade und den Kambly-Keksen in der Süsswarenabteilung ruft mir die baldige Heimreise in Erinnerung.

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