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Biel

Der Marathon wurde zum Ironman

Von acht Betten auf der Intensivstation im Spitalzentrum Biel sind sieben belegt, vier davon mit Covid-Erkrankten. 
Wie entscheiden die Ärzte, wer den letzten Platz bekommt?

Bild: Enrique Munoz Garcia

Andres Marti

Durch die Fenster dringt viel Tageslicht in den Saal. Eine Pflegefachfrau kümmert sich um einen schätzungsweise 60-Jährigen. Als der hagere Mann versucht, sich im Bett aufzusetzen, ringt er nach Atem. Obwohl eine Nasensonde seine Lunge mit viel hoch konzentriertem Sauerstoff versorgt, bekommt er bei der kleinsten Bewegung keine Luft mehr.

Seinen Zimmergenossen geht es noch schlechter. Mit geschlossenen Augen liegen sie reglos da. Selber atmen können sie nicht mehr. Damit eine maschinelle Beatmung möglich ist, wurden sie in ein künstliches Koma versetzt. Ob einer von ihnen je wieder aufwachen wird, ist ungewiss.

Tief in die Luftröhre eingeführte Plastikrohre versorgen ihre Lungen mit Sauerstoff. Was die Sedierten von ihrer Aussenwelt mitbekommen, weiss man nicht so genau. «Obwohl sie nicht ansprechbar sind, reden wir mit ihnen, wie wenn sie wach wären», sagt Barbara Gerber, Leitung Pflege der Intensivmedizin. An diesem Morgen sind alle vier Betten des Isolationszimmers belegt.

 

An den Schläuchen

«Ernährt werden die Intubierten durch eine Magensonde», erklärt Gerber neben dem Bett eines etwa 70-Jährigen. Weitere Schläuche führen Urin und Stuhl ab. Eine Batterie automatischer Spritzpumpen versorgt den Schwerkranken kontinuierlich mit Medikamenten. Ein Monitor überwacht Herzrhythmus, Blutdruck, Körpertemperatur sowie den Sauerstoffgehalt des Blutes.

In Biel nennen sie den Raum mit den schwer kranken Covid-Patienten liebevoll «Stübli». Betreten darf man den Saal nur in spezieller Schutzkleidung, mit Brille, Handschuhen und FFP2-Maske. So eingekleidet, kommt man rasch ins Schwitzen. Eine Pflegefachfrau bringt durch ein kleines Schiebefenster Nachschub ins Isolationszimmer: stapelweise Medikamente, Beutel für Infusionen, Hygieneartikel. Mal eben kurz den Raum verlassen und wiederkommen, das geht nicht.

 

Abbruchgespräche

Die Bewusstlosen müssen oft bewegt werden. «Damit es zu keinem Zwischenfall kommt, sind für die Bauchlagerung jeweils vier oder fünf Personen nötig – Pflegende und Ärzte», sagt Gerber. Auch bei der Körperpflege müsse man aufpassen, dass sich kein Kabel oder Schlauch löse.

7.45 Uhr: Das Team der Bieler Intensivstation trifft sich unter der Leitung des Leitenden Arztes Reto Etter zum Morgenrapport. Die Assistenzärztin vom Nachtdienst informiert über den Gesundheitszustand der Patientinnen und Patienten. Kann Frau F. zurück auf die Bettenstation? Muss Herr B. nochmals operiert werden? Die Entscheide werden im interdisziplinären Team gefällt. Eine Niere funktioniert nicht mehr, ein Bein muss amputiert, eine Lunge von Flüssigkeit befreit werden. Kaum verändert hat sich der Zustand der vier Covid-Patienten. Sie sind alle ungeimpft.

35 Pflegefachpersonen und acht Ärzte arbeiten auf der Intensivstation des Spitalzentrums Biel. Pro Jahr behandeln sie um die 1000 Patienten. Alle retten können sie nicht. Um 18 Uhr stehen Gespräche mit Angehörigen an. Medizinisch ist heute sehr viel möglich. Nicht alles ist sinnvoll. Die «Abbruchgespräche» gehören auf einer Intensivstation zum Alltag. Dabei wird den Angehörigen mitgeteilt, dass eine Heilung nicht mehr möglich ist.

 

Alarm im Pausenraum

«Ob geimpft oder nicht, wir behandeln alle gleich», sagt Gerber. Seit 20 Jahren arbeitet sie auf der Bieler Intensivstation. Eigentlich müsste die Pflegeleiterin nicht am Patientenbett arbeiten. Aber qualifiziertes Personal fehlt: «Die letzte Stelle haben wir über ein Jahr lang ausgeschrieben.» Viele der heute arbeitenden Pflegenden sind noch in ihrer Ausbildung.

Im Pausenraum bestreicht sich Gerber eine Scheibe Brot mit Konfitüre. Über die Ungeimpften mag sie sich nicht aufregen. Das wäre unprofessionell. «Auf der Intensivstation hat man oft mit unvernünftigen Menschen zu tun», sagt sie. Plötzlich ertönt auf einem Monitor im Pausenraum ein Alarm. Herr B. braucht mehr Sauerstoff. Eine Pflegende eilt zu ihm. Das Gipfeli bleibt liegen, der Kaffee wird kalt.

Arzt Reto Etter trinkt seinen Milchkaffee im Stehen. Wie läufts mit den Covid-Patienten? «Unberechenbar», sagt er. «Manchmal machen sie tagsüber Fortschritte, dann geht man am Abend nach Hause, und ihr Zustand hat sich wieder verschlechtert.» Die Covid-Patienten bleiben Wochen, manche monatelang. «Das kann schon sehr frustrierend sein», sagt Etter. Die Überlebenschance bei Intubierten liegt bei rund 50 Prozent. Atmen müssten sie letztlich selber. «Das können wir nicht forcieren.»

Ein kürzlich von Etter behandelter Covid-19-Patient sorgt in der Bettenstation für Unruhe. Er verhält sich unkooperativ, reisst sich die Kabel vom Körper. «Wer so lange sediert war, der hat danach grosse Mühe, wieder mit der Wirklichkeit klarzukommen», sagt Etter. «Manche können noch Tage nach dem Erwachen Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden.» Die psychischen Folgen der schweren Erkrankung würden unterschätzt. «Es ist wie ein wochenlanger Albtraum. Viele müssen danach eine Traumatherapie machen.»

Neben dem Isolationsraum verfügt die Intensivstation in Biel noch über fünf Einzelzimmer. Dort liegen Patienten, die nicht ansteckend sind. An diesem Morgen sind drei der Zimmer belegt. Zurück von einer Krisensitzung, telefoniert im Zentrum der Station Chefarzt Marcus Laube mit dem Inselspital.

 

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Aktuelle Situation 
in Berner Spitälern

Im Kanton Bern verfügen neun Akutspitäler über eine Intensivstation. Laut der Gesundheitsdirektion gibt es kantonsweit rund 100 zertifizierte Intensivpflegebetten. Theoretisch. Praktisch wird der Betrieb der Intensivbetten durch das zur Verfügung 
stehende Personal bestimmt. Am Mittwoch waren im Kanton Bern 69 Plätze besetzt. Über die Hälfte von ihnen belegten Corona-Erkrankte. ama

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