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Serie Zeitreise

Der Milchpanscher, der eine Chance verdient

Weil er verdünnte Milch verkauft, verurteilt das Nidauer Amtsgericht vor 50 Jahren einen Bauern zu einer bedingten Haftstrafe. In früheren Zeiten war Milchfälscherei ein nicht seltenes Delikt. Heute ist das dank Kontrollen kaum mehr möglich.

Der Bauer August hat die Milch mit Wasser verdünnt
  • Dossier

Brigitte Jeckelmann

Wie ein Häuflein Elend muss der Bauer vor den Richtern am Amtsgericht Nidau gesessen haben. Still, bescheiden, gehemmt, schmächtig gebaut und von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt, so beschreibt ihn Justitia, wie sich der Autor des Artikels vor 50 Jahren, am 19. November 1968, im Bieler Tagblatt nennt. Nein, August (Name geändert) leugnet seine Schandtat keinen Moment lang, als man ihn dabei erwischt, wie er die Milch seiner Kühe mit Wasser verdünnt. Milchfälscherei heisst das Delikt, das er während sechs Jahren begeht. Fortgesetzte, gewerbsmässig begangene Warenfälschung und Inverkehrbringen derselben der Tatbestand. So verdient er illegal schätzungsweise einige tausend Franken.

Das Gesetz bestraft solche Sünder streng, denn zu dieser Zeit ist die Milch eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel, so steht es im Artikel. Das Gericht brummt ihm eine bedingte Haftstrafe von zwölf Monaten und eine Geldbusse von 2000 Franken auf. Doch damit nicht genug. Der junge Bauer büsst gleich doppelt. Die Richter publizieren nämlich das Urteil mit seinem Namen sowohl im Nidauer Amtsanzeiger als auch im Amtsblatt des Kantons Bern. Das halbe Dorf grüsst ihn seither nicht mehr.


«Lässige Auffassung»
Solche Prangerstrafen waren früher nicht unüblich. Man wollte damit die Delinquenten davon abhalten, die Tat zu wiederholen. Zudem sollte die Veröffentlichung andere Personen abschrecken, ein solches Delikt überhaupt erst zu begehen.

Martino Mona, Professor am Institut für Strafrecht und Kriminologie an der Uni Bern, verweist dazu auf ein Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 1947, bei dem es um einen Fall von Milchfälschung ging. Die Publikation des Urteils diene der allgemeinen Abschreckung, «weil über dieses häufige und nur mit grossen Schwierigkeiten vollständig erfassende Vergehen in Kreisen der Milchproduzenten vielfach lässige Auffassungen bestehen», heisst es darin. Heute sind gemäss Martino Mona Prangerstrafen jedoch unzulässig.

Dennoch ist die Veröffentlichung von Urteilen in Artikel 68 des gültigen Strafgesetzbuchs als Massnahme noch immer verankert. Gerichte verhängen diese Strafe aber praktisch nicht mehr. Der Grund: Weil heute Medien vermehrt über Gerichtsverhandlungen berichten, stelle sich die Frage nach der Notwendigkeit, sagt Martino Mona. Denn die Zeitungsberichte könnten die Ziele eines öffentlichen Urteils bereits abdecken: nämlich «die Abschreckung der Allgemeinheit.»


Dennoch kein Bösewicht
Zurück zu August. Verurteilt und an den Pranger gestellt: Dennoch ist er kein Bösewicht, wie er im Buche steht. Die Richter können begreifen, wenn auch nicht entschuldigen, dass er auf Abwege geraten ist. Seine Familie hat Pech im Stall: Schwer schuftend auf dem Heimet seines Vaters, befällt die Kühe zweimal eine Seuche, einmal ist es Tuberkulose, dann die Rinderkrankheit Abortus Bang. Zwei Ausmerzaktionen sind die Folge, ob dieser alle Kühe zum Opfer fallen, geht aus dem Zeitungsbericht nicht hervor.

Sicher ist: Der finanzielle Schaden ist gross, die daraus folgende Not ebenfalls. Das Unglück kommt die Familie 8000 Franken zu stehen. Das ist viel Geld zu dieser Zeit. Zum Vergleich: Eine komfortable Dreizimmerwohnung in Biel kostet damals rund 350 Franken monatlich, ein Chevrolet ist für 15000 Franken zu haben und für anderthalb Kilogramm Blondorangen bezahlt der Kunde 1.50 Franken.

Nebst einer nicht unbeträchtlichen Ertragseinbusse kommen noch Unkosten hinzu, die Familie ist dem Ruin nahe. Deshalb beginnt August zu delinquieren, um den Verlust etwas auszugleichen und um dem Vater zu helfen, erklärt er dem Gericht. Der Vater habe ihn aber keineswegs dazu angestiftet. August geht also morgens als Erster in den Stall. Zuvor füllt er die Kessel mit Wasser aus dem Hofbrunnen. Dann melkt er die Milch ins Wasser. Erst verdünnt er sie mit zwei Litern Wasser, später dann mit vier. Morgens und abends liefert er die gepanschte Milch bei der Milchsammelstelle des Seeländer Dorfes ab, in dem er wohnt. Mehrere Jahre lang geht alles gut. Niemand bemerkt etwas davon. Weder die Eltern noch Augusts Frau.


Pure Gewinnsucht
Erst hat er wohl wirklich nur im Sinn, die Not im Haus für die ganze Familie zu lindern. Doch als er 1967 den Hof von seinem Vater übernimmt, hätte er mit der Milchpanscherei aufhören können. Denn ab dann fliesst alles zusätzliche Geld nur in seine eigene Tasche. Doch dann kommt die pure Gewinnsucht ins Spiel, wie er selber vor Gericht zugibt. Um bis zu zehn Prozent verwässert er die Milch, kann nicht mehr damit aufhören. Allerdings lassen ihn die Behörden unverständlicherweise auch viel zu lange gewähren. Denn bereits zwei Jahre vor der Pachtübernahme, also 1965, führt die Milchsammelstelle Verdachtsproben an seiner Milch durch. Und schon damals weist man ihm eine Verwässerung von fünf Prozent nach. Zudem ist die Nitratprobe positiv. Milch enthält kein Nitrat. Erst ein Jahr später, im Juli 1968, kommt der Kantonschemiker ins Spiel: Er lässt die Bombe platzen, weist in Augusts Milch das Wasser nach und zeigt ihn an. Die Polizei überführt den Missetäter umgehend in Untersuchungshaft.


Nicht selten vor Gericht
Milchpanscherei im groben Stil ist seit jeher ein häufiges Delikt vor Gericht: So verurteilt das Bezirksgericht Einsiedeln am 11. Dezember 1919 einen Bauern zu einer Busse von 500 Franken und einem Monat Gefängnis. Das Gericht verschärft die Haftstrafe aber zur Zwangsarbeit, weil es sich um einen Wiederholungstäter handelt. Seine Milch besteht bis zu 60 Prozent aus Wasser. Das Urteil erscheint sowohl im Einsiedler Amtsblatt als auch in den Zeitungen, auf Kosten des Verurteilten «im Interesse der Öffentlichkeit».
1936 weist der Kassationshof des Bundesgerichts die Beschwerde eines Bauern aus Leukerbad ab. Das dortige Gericht hat ihn zu einer Geldstrafe von 400 Franken verurteilt und die Veröffentlichung des Urteils angeordnet. Seine Milch enthält bei einer Probe gar weit mehr als 60 Prozent Wasser.
Heutzutage sind dank engmaschiger Kontrollen solche Milchpanschereien von Bauern praktisch ausgeschlossen. Im Auftrag des Bundes und in Zusammenarbeit mit der gesamten Milchbranche in der Schweiz führt die spezialisierte Firma Suisselab aus Zollikofen Milchkontrollen durch. Regelmässig und unangemeldet. Die Proben entnehmen speziell ausgebildete Personen in der Verantwortung der Milchkäufer entweder aus den Milchtanks oder aus den Kannen an den Milchsammelstellen. Auch in Käsereien gibt es Probeentnahmen. Dort macht das jeweils eine dafür bestimmte Person.


Panscherei rentiert nicht mehr
Suisselab-Geschäftsführer Daniel Gerber sagt, für Bauern würde es heute kaum mehr rentieren, die Milch mit Wasser zu verdünnen. Der Grund: «Der Preis für die Milch des Bauern richtet sich heute oft nach dem gemessenen Gehalt an Fett und Eiweiss und nicht nach der Menge.» Das heisst: Je reicher an Nährstoffen eine Milch ist, umso wertvoller ist sie. Weitere Kontrollwerte sind Keimzahl und Zellzahl: beides wichtige Parameter. Sind sie erhöht, deutet dies auf mangelnde Hygiene im Stall oder auf Infektionskrankheiten bei der Kuh hin. Bei schlechten Ergebnissen muss der Bauer prüfen, ob er die Melkanlage und die Milchkannen zwenig gründlich gereinigt hat oder den Tierarzt rufen, der die Kuh untersucht und behandelt. In beiden Fällen jedoch wird die beanstandete Milch weggeschüttet und gelangt gar nicht erst in den Verarbeitungsbetrieb, sagt Daniel Gerber. Milchpanschereien mit Wasser habe er noch keine erlebt.

Bauer August indes hat gebüsst und büsst noch immer. Die öffentliche Schande ist über ihn hereingebrochen. Er hat sich von der Gesellschaft zurückgezogen und bereut seine Tat zutiefst. Gewissensbisse quälen ihn. Der Autor versucht, die Umwelt mit August zu versöhnen. Man solle diesen nicht in Grund und Boden verdammen. Das Leben gehe weiter. Man müsse August eine Chance geben.

Stichwörter: Gericht, Nidau, Milchpanscher

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