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Mai 1968

Der Protest, der im Generalstreik endete

Als Studenten am 3. Mai die Pariser Universität Sorbonne besetzten, wussten sie noch nicht, was sie damit auslösen. Zwei Wochen später befanden sich acht Millionen Franzosen im Streik, Arbeiter und Studenten lieferten sich Seite an Seite Strassenkämpfe mit der Polizei. Fast einen Monat befand sich das Land in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand. Und das zu einer Zeit, in der niemand es erwartet hätte.

Im Mai 1968 flogen in Paris die Pflastersteine. Die Studenten forderten Reformen, die Arbeiter bessere Bedingungen.Die Polizei antworte ihrerseits mit Tränengas. Copyright Keystone / Bieler Tagblatt
  • Dossier

von Jana Tálos

«Frankreich beginnt sich zu langweilen.» So lautete der Titel des Leitartikels von Alfred Lafont, der am 2. Mai 1968 auf der Frontseite des «Bieler Tagblatt» erschien. «Während seit Beginn des laufenden Jahres die Welt allenthalben in Bewegung ist, während sich hier atemberaubende Wandlungen vollziehen, dort wenigstens eine sich bedrängt fühlende Jugend an wirklichen oder eingebildeten Ketten rüttelt, bleibt Frankreich merkwürdig fern von all diesemGeschehen», schreibt er.

Dieses Urteil über die Lage der Nation klingt ehrlich, obwohl es, hätte er es nur einen Tag später gefällt, deutlich anders ausgefallen wäre. Kaum etwas hatte an diesem 1. Mai, an dem er den Artikel verfasste, darauf hingewiesen, dass sich die Hauptstadt in den kommenden Wochen in ein Schlachtfeld verwandeln würde; dass Pflastersteine durch die Luft fliegen, Barrikaden errichtet werden und sich aus einem Studentenprotest eine Massenbewegung entwickelt, die ganz Frankreich lahmlegen würde.

Es begann mit einer Versammlung

Ziemlich banal hat denn auch alles begonnen: Am Morgen des 3. Mai, es war einFreitag, versammelten sich Mitglieder diverser Studentenorganisationen in der Universität Sorbonne, um sich über eine Demonstration zu beraten, die am folgenden Montag stattfinden sollte. Gegenstand der Demo war die Universität von Nanterre, einem Vorort von Paris, in dem es zuvor immer wieder zu Protesten gegen die schlechten Zustände in der Hochschule gekommen war. Die Schulleitung von Nanterre hatte sich dazu entschieden, die Fakultät zu schliessen – ganz zum Ärger der Studenten, die sich das nicht gefallen lassen wollten.

Da die Studenten befürchteten, bei ihrer Besprechung in der Sorbonne von rechtsradikalen Kommilitonen gestört zu werden, statteten sie sich mit Spitzhacken und Brecheisen aus. Der Rektor der Sorbonne reagierte umgehend und forderte die Pariser Polizei auf, das Gebäude zu räumen. Diese ging mit äusserster Härte vor, setzte Tränengas und Knüppel ein. Mit der Räumung des Gebäudes war die Situation jedoch noch nicht entschärft. Die Auseinandersetzungen verlagerten sich auf die Strasse, die Studenten begannen mit Pflastersteinen zu werfen und errichteten Barrikaden. Im Quartier Latin kam es zu spontanen Kundgebungen.

Die angestaute Wut entlädt sich

Während die früheren Proteste an der Nanterre, die Paris-Korrespondent Lafont in seinem Leitartikel noch abschätzig als «Eintagsfliegen» und «sporadische Äusserungen einer Unzufriedenheit» abgetan hatte, schnell wieder abebbten, ging die Schlacht um die Sorbonne nun erst richtig los. Die angestaute Wut, die Unzufriedenheit über die Lage an den Hochschulen, die überfüllten Säle, die schlechte Ausstattung und die patriarchische Führung der Universitäten – all das schien sich zu entladen, herauszubrechen – und weder die Behörden noch die Regierung wussten, wie sie damit umgehen sollten.

Am darauffolgenden Tag wurde die Universität Sorbonne geschlossen. Am Montag gingen wiederum 2000 Stundenten auf die Strasse, es kam erneut zu Zusammenstössen mit der Polizei. Die Studenten riefen nun auch die Arbeiterschaft dazu auf, sie zu unterstützen. Ein Ruf, der bald erhört wurde, wie am 8. Mai im «Bieler Tagblatt» zu lesen war: «Erstmals werden heute auch Bauern und Arbeiter an Kundgebungen teilnehmen, wobei man sich an die Parole ‹Der Westen will leben› halten wird.» Der Streik werde sich vor allem auf die öffentlichen Betriebe auswirken. Zahlreiche Politiker, Lehrer und Geistliche hätten den Streikenden ihre Unterstützung bereits zugesagt.

Der Protest greift aufs Land über

Von nun an fingen sich die Ereignisse an zu überschlagen. In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai verschanzten sich Tausende Studenten und Arbeiter im Universitätsviertel, das um zwei Uhr früh unter massivem Einsatz vonTränengas von der Polizei gestürmt wurde. DasEreignis soll später als eine der schwersten Strassenschlachten Frankreichs betitelt werden. Über 360 Verletzte forderte der Kampf, 468 Personen wurden festgenommen.

Als Regierungschef Georges Pompidou im Auftrag des StaatspräsidentenCharles de Gaulle ankündigte, die Sorbonne am Montag wieder zu öffnen, die Freilassung inhaftierter Studenten in die Wege zu leiten und auch eine Hochschulreform in Angriff zu nehmen, war es bereits zu spät. Schockiert über die Brutalität der Behörden, liessen sich die Menschen im ganzen Land vom Protestfieber anstecken, gingen auf die Strasse und legten ihre Arbeit nieder. Aus dem Studentenprotest war einGeneralstreik geworden. Einer mit ganz eigenen Forderungen.

Die Regierung droht

Nachdem im ganzen Land Schulen geschlossen, Fabriken besetzt und Betriebsleiter festgehalten wurden, kam nach und nach auch die Forderung nach einem Regierungswechsel auf. Die Regierung ihrerseits reagierte mit Drohungen, erklärte, dass sie «jeden Versuch, die öffentliche Ordnung abzuschaffen, unterdrücken werde», was zu noch mehr Protesten führte. Am 22. Mai befanden sich rund acht Millionen Franzosen imStreik. Dies hatte auch Auswirkungen auf dieSchweiz. So war laut demBT vom 15. Mai der Eisenbahnverkehr zwischen nach Frankreich komplett lahmgelegt.

Als sich Staatspräsident Charles de Gaulle am 24. Mai erstmals persönlich ans Volk wandte, wurde sein Rücktritt bereits lautstark gefordert. Er versprach, die Forderungen der Studenten zu erfüllen, fünf Tage später kündigte er gar Neuwahlen für den Juni an. Gleichzeitig betonte er, sich nicht zurückziehen zu wollen, und wies die Streikenden an, die Arbeit wieder aufzunehmen, es sei denn, sie wollten, dass er den Ausnahmezustand verhängt.

Das abrupte Ende

An diesem Punkt hätten die Proteste eskalieren können. Lange war unklar, ob das Land gar in einen Bürgerkrieg verfällt, zumal sich de Gaulle auch die Unterstützung deutscher Militärs zusichern liess. Doch es kam anders: Die meisten Arbeiter kehrten kurz nach der Rede an ihren Arbeitsplatz zurück, die Regierung wurde im Juni mit grossem Mehr wiedergewählt. Von dem Geforderten blieb amEnde bloss der Ursprung: Die Hochschulreform, die de Gaulle reduziert umsetzen liess. Seien Wirkung trug der Pariser Mai trotzdem in die Welt hinaus: Überall forderten Studenten nun Reformen, so auch in der Schweiz (siehe Artikel rechts). Diese verliefen jedoch fast immer gewaltfrei – und in vielen Fällen erfolgreich.
 



«Seit 50 Jahren empöre ich mich – jeden Tag»

Françoise Steiner: «Die Gewerkschaften sind leider noch immer zu sehr Macho-Organisationen.» Trotzdem ruft sie junge Frauen dazu auf, sich zu organisieren. Copyright Matthias Käser / Bieler Tagblatt  

Françoise Steiner bereitet sich darauf vor, die Matura zu machen, als in Paris die Studenten auf die Srasse gehen. Fasziniert verfolgt die Bielerin die Ereignisse am Radio. Kurz darauf nimmt sie an Demostrationen teil und wird politisch aktiv. Bis heute setzt sie sich für eine bessere Welt ein.

von Peter Staub

«Soll ich Deutsch oder Französisch sprechen?», fragt Françoise Steiner. Eine typische Frage für die fast perfekt zweisprachige Welschbielerin: Obwohl sie genau weiss was sie will und nicht zögert, das zu auch sagen, geht sie auf ihr Gegenüber ein und versucht, diesem das Leben leichter zu machen. Man einigt sich darauf, dass sie in der Sprache des Interviewers spricht, aber auf Französisch wechselt, wenn ihr doch einmal die exakten Begriffe ausgehen.

Die 70-Jährige sitzt entspannt auf dem Balkon im oberstenStock eines neueren Mehrfamilienhauses. Der Blick über die Innenstadt und das zarte Frühlingsgrün des Jurawaldes interessiert sie während des Gesprächs nicht. Was sie seit 50 Jahren antreibt, ist die Ungerechtigkeit. Und die Ungleichheit, die weltweit dafür sorge, dass sehr wenige Menschen viel zu viel und viel zu viele viel zu wenig oder gar nichts hätten.  
Begonnen hat ihr politischer Kampf genau vor 50 Jahren. Bereits seit Wochen ist es in Frankreich zu Studentenprotesten gekommen, als am 3. Mai linke Studenten die Pariser Universität Sorbonne besetzen (siehe Artikel links).

Keine gleichen Chancen

Zu dieser Zeit bereitet sich die 20-jährige Françoise Steiner darauf vor, in Neuenburg die Matura zu machen – in einer Zeit, als es noch nicht üblich ist, dass junge Frauen die gleichen Bildungschancen erhalten wie ihre männlichen Kollegen. Aufgewachsen in einem liberalen Elternhaus ist es ihr nicht in die Wiege gelegt worden, die Ziele linker Studenten zu teilen. «Ich war damals eher schüchtern und habe mich in Biel nicht politisch betätigt», erzählt Steiner. Dafür sitzt die Maturandin Abend für Abend am Radioempfänger und hörte «fasziniert» zu, was die französischsprachigen Sender über die Ereignisse in Paris berichten. Diese Informationen ergänzt sie durch die Lektüre der Presse.

«Ich war damals nie in Paris; das wollte ich meinen Eltern nicht antun, die in Biel etabliert waren; ich wollte sie nicht traurig machen», erzählt Françoise Steiner. «Meine Eltern waren gutbürgerliche Menschen.» Sie hat zu ihnen ein gutes Verhältnis, nur politisch sind sie sich nicht einig. Die angehende Studentin thematisiert das jedoch nicht. Das führt zu einer schizophrenen Situation, wie sie das nennt. Ihr Vater wird im Sommer 1968 von der FDP angefragt, für den Stadtrat zu kandidieren. Er will nicht, bringt aber seine Tochter ins Spiel.

Diese erhält darauf einen Anruf des Parti Radical Romand (PRR) und sie akzeptiert, ohne gross darüber nachzudenken: «In Biel war ich Kandidatin des welschen Freisinns und in Lausanne ging ich als 68erin auf die Strasse.» Gewählt wird sie nicht: «Nein, nein», sagt sie energisch. «Eine junge welsche Frau, das ging damals nicht.» Immerhin ist es in Biel für Frauen 1968 möglich, zu wählen und gewählt zu werden. Das Frauenstimmrecht auf nationaler Ebene ist noch in weiter Ferne. Und da ist sie wieder, ihre Rücksicht auf andere: «Das war eine ungesunde Situation, aber ich wollte die Eltern nicht verletzen.» Sie bleibt aber nicht lange beim PRR, nach einem Jahr tritt sie aus der Partei aus.  

Was sie im Mai 68 am meisten interessiert, sind zwei Aspekte: das, was auf den Strassen konkret passiert also etwa der Bau von Barrikaden und das, was an Forderungen hinter den Unruhen steckt. «Die Studenten wollten die Gesellschaft verändern. Der Vietnamkrieg, die Entkolonialisierung, Kapitalismus und Marxismus, das waren die grossen Themen. Die Befreiung der Frau stand damals noch nicht im Zentrum.» Dennoch sorgt der Mai 68 auch bei der Gleichberechtigung der Geschlechter für Bewegung: «Auf das Frauenstimmrecht hätten wir in der Schweiz sonst noch länger warten müssen», ist sie überzeugt. So dürfen junge Frauen nun endlich auch dann lange Hosen tragen, wenn es nicht gerade minus zehn Grad kalt ist. Die Möglichkeiten der jungen Frauen, ins Gymnasium oder ins Lehrerseminar zu kommen, ändern sich ebenfalls. «Das habe ich erst später erfahren: Vor 68 hatten Jungen und Mädchen nicht die gleichen Kriterien zu erfüllen, die Hürden für die jungen Frauen waren viel höher als für die Jungs», erzählt Steiner.

Kinopreis politisiert

Obwohl sie sich in Biel nicht engagiert, verfolgt sie die Entwicklung in der Stadt: «Ohne Mai 68 gäbe es die Coupole nicht. Und dank dem Chessuhaben wir in Biel nie solche Unruhen gehabt, wie es sie in anderen Städten gab.» Nach den Sommerferien verändert sich das Leben der Françoise Steiner: Sie nimmt in Lausanne das Studium in Politikwissenschaften auf und wird politisch aktiv. «Das Leben an der Uni war damals ziemlich bewegt.»

Das habe damit begonnen, dass die Kinopreise stark erhöht wurden, was viele Manifestationen ausgelöst habe. Diese Unruhe, angefacht durch die Studentenbewegungen im Ausland, schwappt auch auf den universitären Betrieb über. An ihrem ersten Tag als Studentin gibt es keine Kurse oder Vorlesungen. Die Studenten streiken. «Ich habe mitgemacht, aber ich war keine Aktivistin», erzählt Steiner. Die Studierenden verlangen andere Kurse und Studieninhalte, als jene, die es bisher gab. Nicht zu vergessen die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg.

An den Demos nehmen viele Frauen teil. «Ich habe lange nicht richtig realisiert, dass vor allem die männlichen Studenten den Ton angaben.» Erst später stellt sie fest, dass auch in der 68er-Bewegung in Frankreich undDeutschland die Männer sagen, wo es lang geht. «Die Frauen haben die Flugblätter gedruckt und sie verteilt.» Sie selber verändert sich auch äusserlich: «Ich habe mich in Lausanne anders angezogen als in Biel.» Weil es bei Strassendemos wichtig ist, wegrennen zu können, trägt sie Tennisschuhe und Jeans. Ab und zu muss sie Fersengeld geben, um vom Tränengas wegzukommen.

An der Uni herrscht Aufbruchstimmung, der Diskussionsbedarf ist gross. Der Frontalunterricht durch Professoren wird aufgebrochen, es gibt nun Seminare, in denen die Studierenden mitreden können. «Wir konnten endlich sagen, was wir denken, das gab es vorher nicht.» Nicht nur die Form, auch die Themen ändern sich. «Wir haben nicht mehr bloss über den traditionellen Liberalismus, sondern auch über Sozialismus und Marxismus gesprochen.» Im Geschichtsstudium werden die Themen Entkolonialisierung und Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt aufgenommen.

Beim «Journal du Jura»

«Es war eine schöne Zeit», sagt Françoise Steiner rückblickend. Sie kann studieren, was sie interessiert und muss sich nicht mehr um Mathematik und Physik kümmern. Zwei Jahre nach 68, noch mitten im Studium, tritt Steiner der SP Biel bei. Obwohl sie wegen ihrer Eltern lange zögert. Dann stellt sich jedoch heraus, dass diese damit kein Problem haben. Das ist eigentlich kein Wunder, war doch der Bruder ihres Grossvaters der legendäre sozialdemokratische Stadtpräsident Guido Müller (1921 bis 1947).  Nach dreieinhalb Jahren hat sie das Lizenziat in der Tasche. 

Zurück in Biel beginnt Françoise Steiner beim «Journal du Jura» (JdJ) eine zweijährige Ausbildung zur Journalistin. Hier hätte sie gerne weitergearbeitet. «Aber beim JdJ wollten sie mich nicht behalten. Wegen meinen politischen Ideen, wie ich später aus meiner Fiche der politischen Polizei erfahren habe.» Mehr Glück hat sie bei der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA), wo sie  als Inlandredaktorin arbeitet. Allerdings wird sie dort von der Berichterstattung aus dem Grossen Rat abgezogen, nachdem ein freisinniger Bieler Grossrat beim Chefredaktor interveniert.

Mitte der 70er-Jahre bringt sie das erste von zwei Kindern zur Welt und wird Mutter und Hausfrau. Parallel zu diesem teilweisen Rückzug ins Privatleben beginnt Françoise Steiner eine politische Karriere, wobei sie dieses Wort auf sich bezogen nicht mag. Sie engagiert sich bei Wahlen, sammelt Unterschriften und verteilt Flugblätter. Zum Beispiel 1975, als das Montagewerk der General Motors geschlossen wird. 1983, 35-jährig, wird sie als Vertreterin des Parti Socialiste Romand (PSR) in den Bieler Stadtrat gewählt. Nach acht Jahren als Parlamentarierin, davon 16 Monate als Stadtratspräsidentin, schafft sie die Wahl zur nichtständigen Gemeinderätin, wo sie sich ebenfalls zwei Legislaturen lang engagiert.

Nach Stellen mit kleineren Pensen steigt Françoise Steiner nach der Jahrtausendwende wieder voll ins Berufsleben ein und arbeitet bis zum Schluss ihres Berufslebens bei der Behindertenorganisation Procap. Zuerst als Journalistin dann als Generalsekretärin für die Westschweiz.

Gleichberechtigung als Ziel

Haben die Ereignisse im Mai 68 das Leben der Françoise Steiner nachhaltig verändert? «Ja, das kann man so sagen.» Die Bewegung hat ihr zu Selbstvertrauen verholfen und hat ihr die Augen für die gesellschaftlichen Probleme geöffnet. Und: «Ça m’a poussé à m’engager; die Ereignisse haben mich dazu bewogen, mich für eine bessere Gesellschaft zu engagieren.» So setzt sie sich beispielsweise für die Gleichberechtigung der Frauen ein. «Das war ein schöner Kampf, aber wir haben sie immer noch nicht ganz erreicht.»

Nach 68 kommt die Neue Linke auf, marxistische Organisationen links der SP. Wie erlebt sie diese? «Ich habe in Biel viele Maoisten, Trotzkisten oder Marxisten gekannt, das waren alles gute Kollegen.» Doch eine gewisse Rivalität ist immer vorhanden. «Sie hatten immer ein Problem mit der SP, die ihnen zu konziliant war.» Obwohl es auch innerhalb der SP Genossen gab, welche die radikal Linken ablehnten, habe sie persönlich mit diesen nie ein Problem gehabt.

Wenn sie zurückblickt, ist Françoise Steiner überzeugt, dass dank 1968 heute eine andere Kultur herrscht: Die Solidarität mit der Dritten Welt, die pazifistische Bewegung oder die Anti-AKW-Bewegung wären sonst nicht möglich gewesen. «Dass das nicht alles falsch war, sieht man heute», sagt sie. Das ganze Leben sei liberaler geworden. Sie habe beispielsweise noch Mitte 70er Jahre eine traditionelle Mutterrolle übernommen. Damals habe man noch nicht viel von der Emanzipation gespürt. «Meine Söhne jedoch sind beide sehr aktiv, was das Familienleben betrifft.»

Der von Rechts erhobene Vorwurf, dass die 68er an vielen heutigen Problemen schuld seien, ist nach Françoise Steiner nicht falsch: «Das Gegenteil ist richtig.» Die Probleme kämen vom Ultraliberalismus, von einem aggressiven Kapitalismus her. «Der Anstieg des Reichtums der Reichen und die Verarmung der Benachteiligten ist skandalös». Steiner redet sich in Rage. Die Ausbeutung der Dritten Welt nehme weiter zu.  

Zu den Problemen mit der Jugend: Sie kenne niemanden, der seine Kinder antiautoritär erzogen habe. Natürlich sei man heute nicht mehr so streng, nach 68 habe man sich jedoch viel bewusster um die Erziehung gekümmert als vorher. Auf die Frage, ob die Solidarität mit Befreiungsbewegungen, die später selber zu Unterdrückern wurden, im Nachhinein gesehen nicht naiv gewesen sei, weicht sie aus. Das Engagement gegen den Vietnam-Krieg sei richtig gewesen, daher sei sie auf der richtigen Seite gestanden. Was nachher passiert sei, sei tragisch.

Françoise Steiner positioniert sich stets auf dem linken Flügel der SP: «Ich habe immer für ein besseres Leben gekämpft.» Und für Minderheiten. In ihrer ersten Motion im Stadtrat fordert sie einen Durchgangsplatz für Fahrende. «Natürlich wurde das nicht angenommen.» Zu ihrem Engagement gehört es, dass sie sich ungebrochen über Ungerechtigkeiten aufregt. «Ich empöre mich noch immer, jeden Tag.» Etwa wenn sie hört, dass aus der Schweiz Chemie nach Syrien geliefert wurde, die zur Herstellung des Nervengases Sarin verwendet werden konnte. Und sie engagiert sich noch immer: Sie ist Präsidentin der Dargebotenen Hand, gibt unentgeltlich Französischkurse im Bieler Begegnungszentrum Passepartout oder macht Übersetzungen für verschiedene Vereine. «Ich brauche es, engagiert zu sein,» sagt sie.

Françoise Steiner war eine Zeit lang Präsidentin des VPOD Biel: «Man darf die Gewerkschaft nicht nur als Versicherung gegen Probleme am Arbeitsplatz verkaufen.» Die Gewerkschaften bräuchten wieder eine politische Vision. Man müsse die Menschen für eine Arbeit mobilisieren, die auch Spass mache und nicht nur Burn-outs produziere. Zudem müssten sich die Gewerkschaften gegenüber den Frauen öffnen. Die Gewerkschaften würden weitgehend von Männern geführt. «Sie sind leider noch immer zu sehr Macho-Organisationen.» Das führe dazu, dass die Frauen wenig Lust hätten, sich dort zu engagieren. Trotzdem unterlässt sie es nicht, die jungen Frauen aufzurufen, sich gewerkschaftlich zu organisieren.
So ist sie: konziliant im Ton aber hart und klar in der Sache.
Auch 50 Jahre danach.

Zur Person
• Françoise Steiner, 70, lebt mit ihrem Ehemann in Biel. Sie studierte ab 1968 in Lausanne Politikwissenschaft. Nach einem Volontariat beim «Journal du Jura» arbeitete sie als Inlandredaktorin bei der SDA und später als Generalsekretärin von Procap für die Westschweiz.
• Von 1983 bis 1991 war sie als PSR-Vertreterin Mitglied des Bieler Stadtrates, den sie 1984/85 präsidierte. Von 1993 bis 2001 war sie nicht ständiges Mitglied des Bieler Gemeinderates.   
• Sie hat zwei Söhne und betreut regelmässig vier Grosskinder.

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