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Biel

Der Rollstuhl verleiht ihm Flügel

Wegen eines Gendefekts kann Simon Baumgartner nicht schmerzfrei laufen. Von Rollstühlen hielt der Elektrotechniker lange nichts und biss auf die Zähne. Doch dann entdeckte der Bieler, dass die fahrbaren Stühle auch fliegen können.

«Durchs Fliegen habe ich ein besseres Selbstwertgefühl gewonnen», sagt der 27-jährige Bieler Simon Baumgartner. Nico Kobel
  • Dossier

von Jasmin Hefti

«Den ersten Tag der Woche verbringe ich sitzend. Der Montag unterscheidet sich dabei nicht gross von den anderen Wochentagen. Das hat aber nicht unbedingt mit meiner Krankheit zu tun: Als Hardware-Entwickler sitze ich sowieso die meiste Zeit. Für ein Unternehmen in Biberist designe ich Schaltungen für verschiedene elektronische Geräte. Eine Arbeit, die viel Geduld und analytisches Denken erfordert: Nicht immer funktionieren die Schaltkreise auf Anhieb, manchmal tüftle ich tagelang an einer Schaltung. Mir gefällt meine Tätigkeit, da sie sehr vielseitig ist. Immer wieder gibt es neue Rätsel zu knacken.

Zur Elektronik kam ich, weil ich herausfinden wollte, wie die Geräte funktionieren. In meiner Jugend habe ich einmal ein Radio auseinandergenommen, um herauszufinden, wie die einzelnen Teile zusammenspielen. Also entschied ich mich für eine Ausbildung als Elektroniker. Nach der Lehre wollte ich mehr und hängte noch ein berufsbegleitendes Studium an der höheren Fachschule für Technik in Grenchen zum diplomierten Techniker HF Elektrotechnik an. Lange konzentrierte ich mich voll auf meinen Beruf, weil ich mich darin verwirklichen konnte. In der Freizeit bin ich in dieser Hinsicht eingeschränkt – dachte ich zumindest lange.


Die Beine, die nicht tragen

Ich wurde mit einem Gendefekt namens Morbus Charcot-Marie-Tooth geboren, kurz CMT. In meiner Kindheit und Jugend wuchsen die Knochen in meinen Beinen schneller als die Sehnen, meine Füsse verformten sich und wuchsen nach innen. Mit Beinschienen, Schuheinlagen und insgesamt sechs Operationen versuchten die Ärzte, dem entgegenzuwirken, aber das Laufen bereitete mir stets grosse Mühe.

Nur eine halbe Stunde pro Tag sollte ich die Beine belasten. Besonders in meiner Jugend überschritt ich dieses Limit oft, weil ich mit den anderen mithalten, in der Freizeit etwas unternehmen und mich sportlich betätigen wollte. Die Folge waren jeweils tagelange Schmerzen in den Beinen.

Durch Freunde wurde ich auf den Gleitschirmsport aufmerksam. Ich sah ihnen beim Fliegen zu und dachte mir, dass es ein tolles Gefühl sein muss, grenzenlos durch die Luft zu schweben. Da man in der Luft die Füsse nicht braucht, wäre ich dabei vielleicht für einmal nicht eingeschränkt. Doch dann kam der Dämpfer: Bei Start und Landung ist doch Beinarbeit gefragt. Ich gab mich aber nicht geschlagen. Da bin ich stur: Wenn ich etwas erreichen will, dann gebe ich alles dafür. Ich recherchierte im Internet und stiess auf die Gleitschirmschule Fluso in Langendorf. Diese bietet die Ausbildung zum Gleitschirmpiloten für Menschen mit Handicap an. Gleitschirmfliegen wurde für mich möglich, allerdings unter einer Bedingung: Ich musste mich in einen Rollstuhl setzen.


Der Rollstuhl, der fliegt

Vor der Ausbildung bei der Fluso wollte ich keinen Rollstuhl. Ich kannte von meinen Operationen nur diejenigen aus dem Krankenhaus und war der Meinung, so ein Vehikel würde mich einschränken. Für den Gleitschirmkurs setzte ich mich trotzdem in einen speziellen Flugrollstuhl. Mein Fluglehrer sitzt wegen eines Unfalls seit 2013 im Rollstuhl. Dank ihm lernte ich den fahrbaren Untersatz von einer anderen Seite kennen: als cooles Sportgerät. Auf Rädern kann ich mit dem Gleitschirm starten und landen, in der Luft macht der Stuhl kaum einen Unterschied.

Der Start ist etwas kniffliger als zu Fuss. Während sich Fussgänger einfach angurten und loslaufen, brauche ich dafür zwei Helfer, die mich beim Einhängen unterstützen und den Stuhl festhalten. Da ich auf Rädern nicht seitwärts ausgleichen kann, ist es besonders wichtig, dass meine Position zum Schirm genau stimmt. Auch mit aufkommendem Seitenwind beim Start kann ich nicht ganz so flexibel umgehen: Fussgänger können in der Aufziehphase seitlich korrigieren, der Rollstuhl hingegen droht umzukippen. Wenn ich den Start abbrechen will, habe ich weniger Zeit dafür, denn wenn der Stuhl einmal rollt, gewinnt er rasch an Geschwindigkeit. Hingegen ist die Landung mit Stuhl einfacher: Da ich mit Rädern auf dem Boden aufkomme und ausrollen kann, brauche ich nicht so stark abzubremsen wie Gleitschirmflieger, die auf ihren Füssen landen.

Start- und Landeplatz muss ich sorgfältig auswählen: Das Gelände darf weder zu steil noch zu uneben sein. Schnee geht gar nicht. Seit Oktober bin ich deswegen nicht mehr in der Luft gewesen. Im Sommer plane ich jedes Wochenende einen Flugtag ein und wenn Wetter, Wind und Bauchgefühl stimmen, hebe ich ab. Mit der Fluso starte ich oft auf dem Weissenstein, wir waren aber auch schon in Interlaken und im Engelbergtal. Dieses Jahr möchte ich die praktische Prüfung ablegen und meine Grundausbildung abschliessen.


Die Entscheidung, die alles ändert

Mein Fluglehrer ist auch mein Mentor, ich habe einen engen Bezug zu ihm. Er hat mich darin bestärkt, mir einen eigenen Rollstuhl anzuschaffen. Durch ihn wurde mir klar, dass ein Rollstuhl mich nicht einschränkt, dass er mir, ganz imGegenteil, mehr Lebensqualität verschafft. Auf Rädern kann ich mich schmerzfrei fortbewegen und bin viel freier als zu Fuss. Am 23. Dezember 2017 bekam ich meinen eigenen Stuhl – quasi als Weihnachtsgeschenk. Der orange Rahmen ist auf mich angepasst, die Räder haben Mountainbike-Pneus, die den Rollstuhl geländegängig machen. Die zwei Vorderräder sind bei meinem sportlichen Modell etwas weiter vorne als bei einem normalen Rollstuhl. Wenn ich Gleitschirm fliege, ersetze ich sie durch ein grösseres Vorderrad mit Lenker, ähnlich wie bei einem Velo.

Mit dem fahrbaren Untersatz habe ich viel Spass. Zum Beispiel habe ich einmal eine Wheelchair-Downhill-Fahrt unternommen und bin mit hohem Tempo einen Hang hinuntergebrettert. Oder ich stelle mich neuen Herausforderungen und probiere aus, was alles möglich ist. Mit der richtigen Technik kann ich mit meinem Rollstuhl Treppen hinuntersteigen und Rolltreppe fahren. Durchs Fliegen habe ich ein besseres Selbstwertgefühl gewonnen. Ich bin offener geworden und habe den Mut gefunden, meine Komfortzone zu verlassen, um Dinge zu erreichen, die mir vorher unmachbar erschienen.

Im August 2017 habe ich meinen Fluglehrer bei einer besonderen Reise über die Alpen begleitet: Er überquerte das Gebirge nur mit Gleitschirm und Rollstuhl, also entweder fliegend oder aus eigener Kraft rollend. Ausnahmen bildeten nur Strecken mit Steigungen über sechs Prozent, dort liess er sich ziehen. Ursprünglich wollte ich nur beim Start zuschauen, bin dann aber spontan über die ganzen dreieinhalb Tage im Begleitfahrzeug mitgefahren. Für den letzten Tag habe ich im Geschäft angerufen und kurzfristig freigenommen. Die Reise war ein tolles Erlebnis. Bei der nächsten möchte ich wieder dabei sein. Diese ist für Mai geplant. Während zwei Wochen geht es vom Weissenstein 700 Kilometer nach Girona in Spanien, auch dieses mal nur mit Schirm und Stuhl.


Die Spenden, die es ermöglichten

Meine Gleitschirm-Ausrüstung war nicht ganz billig. Insgesamt kostete sie rund 18 000 Franken, der Rollstuhl allein macht davon etwa 11 000 Franken aus. Einen grossen Teil der behinderungsbedingten Mehrkosten konnte ich mithilfe von Crowdfunding decken. Innerhalb von zwei Wochen fand ich 42 Unterstützer, die mein Projekt cool fanden. Daraufhin gestaltete ich eine Website, damit sie das Projekt ‹Simon will fliegen› weiter mitverfolgen konnten. Ausserdem fragte ich verschiedene Organisationen und Unternehmen an und fand so drei Sponsoren: Neben der Rohrreinigungsfirma Kanaltiger und dem Kaffeemaschinenvermieter Kaffeepause.ch stiftete auch die Schweizerische Muskelgesellschaft einen Beitrag. Das ist eine gemeinnützige Organisation, die sich für Menschen mit einer Muskelkrankheit einsetzt.

Um den Menschen, die mein Gleitschirmprojekt unterstützt haben, etwas zurückzugeben, halte ich am Donnerstag im BBZ Biel einen Vortrag. Darin will ich zeigen, was ich dank ihrer Spende erreichen konnte. Ausserdem möchte ich das Thema Rollstuhl gesellschaftsfähiger machen. Mit meiner Geschichte möchte ich dazu beitragen, dass der Rollstuhl nicht mehr als Behinderung, sondern als Hilfsmittel angesehen wird. Meinen eigenen gäbe ich nicht wieder her. Am Wochenende hebe ich damit ab und montags begleitet er mich zurück in den Berufsalltag.»

Info: Vortrag Simon Baumgartner, Erfüllung eines Lebenstraums – dank des fliegenden Rollstuhls, 14. März, 20 bis 22 Uhr in der Aula des BBZ Biel.

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