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Analyse

Der Tag der Erleichterung

Marc Bühlmann ist Politologe an der Universität Bern und beschäftigt sich intensiv mit dem Jurakonflikt. Im Interview betont er, dass die Jurafrage mit diesem Entscheid nicht gelöst sei.

Die Regierungsräte Philippe Perrenoud (links), Christoph Neuhaus und Bernhard Pulver nehmen zur Kenntnis, dass der Berner Jura beim Kanton Bern bleibt. Bild: Olivier Gresset

Fabian Maienfisch

Sonntagnachmittag auf dem Weg von Biel Richtung Courtelary. Tief hängt der Nebel in den Hügeln des Berner Juras, auf den Strassen ist kaum Verkehr. Am Vortag muss es geschneit haben, an den Strassenrändern liegen braunweisse Schneereste. Ab und zu sieht man ein verblichenes oder zerrissenes Plakat am Strassenrand, meist Propaganda der Berntreuen gegen einen Grosskanton Jura. «Nein zum Kanton Jura» oder «Unseren Berner Jura zerstückeln? Nein!», steht da geschrieben. Nur wenig deutet sonst auf die historische Abstimmung hin, deren Resultate später an diesem Tag bekannt gemacht werden.

Grosses Sicherheitsaufgebot

Nach gut 20 Minuten kommt die Einfahrt ins 1300-Seelendorf Courtelary. Der Ort, wo die Berner Regierung in Kürze über die Zukunft des Berner Juras informieren wird. Nach 1974/75 darf sich die bernjurassische Bevölkerung erneut darüber äussern, ob sie ihre Zukunft im Kanton Bern oder beim nördlichen Nachbarn sieht. Damals, vor bald 40 Jahren, war der Abstimmungskampf heftig. Im ganzen Kanton kam es zu Aktionen der Separatisten, sogar zu Gewaltausbrüchen und Toten.

Vor dem Schulhaus winkt ein Kantonspolizist. Die Presse solle doch bitte auf dem Pausenhof parken, sagt der Mann. Der Parkplatz ist schon fast voll. Das erste Anzeichen für wichtige Abstimmungen. Durch ein Fenster erkennt man im Keller des Schulhauses zahlreiche Polizisten, die Kaffee trinken. Sie haben wohl Pause, halten sich bereit. Vor dem Regierungsstatthalteramt herrscht Hektik. Mehrere Übertragungswagen verschiedener Fernsehstationen sind geparkt. Der Eingang wird von Polizisten bewacht - ohne Ausweis kein Zutritt. Im Gebäude dasselbe Bild: überall Polizei, Einlass gibt es nur durch einen Metalldetektor. Irgendwie irritierend, aber verständlich, wenn man an die Geschehnisse in der Vergangenheit denkt. Und daran, dass immerhin zwei Regierungsräte und der Regierungspräsident des Kantons Bern vor Ort anwesend sind.

Stolz auf Neuenstadt

Im Statthalteramt dann die erste grosse Nachricht des Tages, mittlerweile ist es 15 Uhr. Moutier sagt Ja. Über 55 Prozent der Bevölkerung von Moutier möchte mit dem Kanton Jura Verhandlungen zur Bildung eines neuen Kantons Jura aufnehmen. Die Journalisten im Presseraum sind nicht überrascht, die meisten hätten eine höhere Zustimmung erwartet. Doch der Entscheid hat etwas Einzigartiges: Zum ersten Mal überhaupt legt Moutier zur Jurafrage ein Ja in die Urne.

Vom Resultat in Moutier sei er nicht überrascht, sagt Roland Matti, FDP-Grossrat und Bürgermeister von Neuenstadt. Nicht ohne Stolz fügt er aber an, dass sein Neuenstadt zu Fusionsverhandlungen deutlich Nein gesagt habe. Fast 75 Prozent der Neuenstädter lehnen einen Grosskanton ab. «Wir haben klargemacht, zu welchem Kanton wir gehören wollen», sagt Matti. Nun solle man nach vorne blicken und andere Probleme im Kanton angehen. Noch liegen die offiziellen Resultate nicht vor.

Was im Nachbarkanton gestimmt wurde, ist aber mittlerweile bekannt. Wenig überraschend möchte die Bevölkerung im Kanton Jura mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 76,6 Prozent mit den Bernjurassiern über einen neuen Kanton Jura verhandeln. Die Stimmbeteiligung lag bei 64,2 Prozent.

Langsam aber sicher müssten bald auch die Resultate aus dem Berner Jura vorliegen. Noch ist kein Regierungsrat im grossen Saal des Statthalteramtes angekommen. Etwas abseits in einer Ecke sitzen zwei junge Leute. Nein, sie seien keine Politiker, betonen sie. Sie seien auf Einladung des Kantons Bern hier und gehörten zur Gruppe «Studenten für einen neuen Kanton Jura». Warum setzen sich zwei Bernjurassier - er aus Péry, sie aus Sonceboz - für einen Grosskanton Jura ein? «Es läuft nicht alles gut bei uns», sagt der junge Mann. Darum wünsche er sich, dass eine neue Kantonsverfassung ausgearbeitet werde. Und wenn diese vorliege, dann könnten die Bernjurassier ja immer noch Nein dazu sagen. Noch hoffen die beiden.

«Wir danken für das Vertrauen»

Plötzlich öffnet sich eine Türe. Die Regierungsräte Philippe Perrenoud (SP) und Bernhard Pulver (Grüne) sowie Regierungspräsident Christoph Neuhaus (SVP) betreten den Saal. Hektik kommt auf, die Resultate liegen vor.

Bei einer aussergewöhnlich hohen Stimmbeteiligung von über 72 Prozent sagen 71,85 Prozent der Bernjurassier Nein zu Fusionsverhandlungen mit dem Kanton Jura.

Ein Aufschrei der Erleichterung erfüllt den Raum, Beifall von allen Seiten. Die Berntreuen sind in diesem Raum offensichtlich gut vertreten. «Wir sind alle erleichtert über dieses Resultat, wir danken der Bevölkerung für ihr Vertrauen in den Kanton Bern», sagt Regierungspräsident Neuhaus. Kollege Pulver ergänzt: «Das ist auch ein Votum für die Zweisprachigkeit des Kantons Bern und eine Stärkung der frankophonen Kultur.» Somit könne Bern weiterhin seine Brückenfunktion in der Schweiz erfüllen. Das Regierungsstatthalteramt droht nun aus allen Nähten zu platzen. Es wird angeregt diskutiert und analysiert. Überall warten Journalisten auf ein Interview.

Die Diskussionen gehen weiter

Nach einer knappen Stunde kehrt langsam Ruhe ein. Philippe Perrenoud steht alleine im Foyer an einem runden Tisch. Er sieht erschöpft aus. «Ich freue mich sehr», sagt er. Nun müsse man aber an die Verlierer denken und ihnen die Hand reichen. «Wir wollen zusammen mit allen Partnern den Status quo plus weiterentwickeln und diskutieren, wo wir dem Berner Jura mehr Autonomie geben können.» Mit ernster Miene fügt er an, dass jetzt die zweite Etappe beginne. Damit spricht er das Ja in Moutier an und die mögliche Gemeindeabstimmung, die folgen könnte. Wie genau dieser Prozess aussehen wird, weiss heute noch niemand. Das sei Gegenstand weiterer Verhandlungen mit dem Kanton Jura und der Eidgenossenschaft, sagt Perrenoud.

Vor dem Gebäude stehen immer noch die Polizisten. Doch sie wirken deutlich entspannter als noch vor wenigen Stunden. Sie scherzen mit den Politikern und den Medien. Alles ist gut gegangen.

Einer nach dem anderen verlassen jetzt auch die Regierungsräte und ihre Entourage das Statthalteramt. Heute dürfen sie sich über ihren Sieg freuen. Endgültig gelöst - und dessen sind sich hier alle bewusst - ist die Jurafrage aber noch lange nicht.

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