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Dichtestress der anderen Art

Die passende Umgebung für ältere Menschen? Das Forschungsprojekt «Stadtlandschaft 66+» macht sichtbar, wo es diesbezüglich Entwicklungsbedarf gibt.

Ein modernes Kunstwerk? Nein, eine Visualisierung von möglichen simulierten Bewegungsmuster in der Stadt Bern. Gelb die Bewegungen älterer Menschen, blau jene der jungen Menschen bis 20. Bild: zvg

Marc Schiess

Die Folie könnte in ihrer ästhetischen Aufmachung auch ein modernes Kunstwerk sein. Beim näheren Betrachten zeigen sich die Umrisse der Aare um die Berner Altstadt. Gelbe und blaue Linien überziehen die Karte und bündeln sich zu «Points of Interest» der beiden Farben. «Gelb steht für die Bewegungen von älteren Menschen, blau von jungen Menschen bis 20», sagt Christine Seidler, Professorin für Urbanität und Mobilität. Die Folie ist eine Visualisierung von möglichen simulierten Bewegungsmustern in der Stadt Bern. «Die getrennten Wege zeigen, dass alle Menschen Ansprüche an Mobilität haben, wir uns aber mit zunehmendem Alter anders im Raum bewegen.»

«Points of Interest» für Menschen ab 66
Wir sind mitten in den Ergebnissen der «Stadtlandschaft 66+», einem von Dencity entwickelten Tool für kontextuelle Raumanalysen. Mithilfe von Datenbankanalysen und qualitativen Erhebungen entschlüsseln Christine Seidler und ihr Team einen Teil der schweizerischen DNA, der noch wenig erforscht ist. Wie es der Name anzeigt, fokussiert das Projekt auf ältere Menschen ab 66 Jahren. Wo diese wohnen und wo ihre wichtigen Orte, die «Points of Interest» liegen. Dazu gehören unter anderem Einkaufen, Gesundheitsversorgung und beliebte Treffpunkte.

Bei gesamthaft über 400 Kategorien und Unterkategorien, sind die Points of Interest nur eines von mehreren Genres von ADAM, dem «Automatic Density Analysis Model». Potenziale und Defizite von Orten, Stadtkernen und peripheren Gebieten werden damit sichtbar. «Wir reduzieren nicht die Komplexität, sondern erhöhen sie mithilfe von Big Data noch und quantifizieren gleichzeitig Kriterien von Lebensqualität», sagt Christine Seidler. Um die quantitativen Messmethoden wie die Analyse von Big Data zu verifizieren, lässt das Forschungsteam Personen der untersuchten Orte «Points of Interest» auf Karten kleben sowie Fragen beantworten und vergleicht die Resultate mit den Computeraussagen. Zwischen den quantitativ und qualitativ erhobenen Daten ergibt sich eine hohe Übereinstimmung, die Ergebnisse sind wertig. Und sie sind aufsehenerregend.

Verfrüht ins Pflegeheim kostet die Gesellschaft
Um die Resultate angemessen einordnen zu können, muss Seidler etwas ausholen. «Die Individualisierung der Gesellschaft schreitet voran, die nun ins Rentenalter eintretenden Babyboomer altern anders.» Sie hätten Ansprüche, wollten individuell wohnen. Die Individualisierung auch aufs Alter nehme stark zu, die passende Infrastruktur dazu fehle aber oder sei noch nicht bereit. Dazu kommen weitere Faktoren wie die Schrumpfung, das Gegenteil der Verdichtung.

Diesen Prozess kennt man aus Bergdörfern, aber Seidler beobachtet ihn auch an Orten wie Langenthal oder Huttwil, dem kleinsten der vier untersuchten Orte: «In Huttwil haben wir zwei Entwicklungen, die sich überlagern: Die Schrumpfung und Immobilien als Geldanlage.» Letzteres, eine Folge der Wirtschaftskrise von 2001, habe dazu geführt, dass für Geld und nicht mehr für Menschen gebaut werde – «man hat das Geld im Beton parkiert». Beide Faktoren führen zu einem erhöhten Leerbestand an Wohnungen. Wohnungen, die nicht in Fussdistanz zum Zentrum liegen und mit dem ÖV oft schlecht oder gar nicht erschlossen sind. Menschen über 65, die ans öffentliche Verkehrsnetz angebunden sind, nützen dieses auch und verzichten auf das Auto, sagt Christine Seidler. Wie im Fall von Huttwil seien jedoch viele Dörfer auf Einfamilienhäuser und motorisierten Individualverkehr ausgerichtet. Ältere Menschen würden von anderen abhängig oder blieben – gesellschaftlich isoliert – zuhause. Der Schritt ins Alters- und Pflegheim erfolge deshalb oft gezwungenermassen verfrüht und nicht primär aus gesundheitlichen Gründen.

Das gleiche Resultat sehe man in Zürich, wenn auch aus anderen Gründen. Im Metropolitanraum schafft die hohe Nachfrage teuren Wohnraum. Die sogenannte Gentrifizierung verdränge die weniger begüterten Seniorinnen und Senioren aus der Stadt. «Sie gehen aufs Land –oder eben ins Pflegheim.» Letzteres kostet die Gesellschaft massiv mehr, als wenn ältere Menschen zuhause bleiben und dort ambulant unterstützt werden.

Um das Ziel der Stadtlandschaft 66+, die Steigerung der Lebensqualität älterer Menschen, zu erreichen, schlägt Christine Seidler ein Portfolio an Massnahmen vor. Generell fordert sie partizipative Planungsinstrumente, die den Menschen miteinbeziehen: «Wie für alle Menschen gilt auch für künftige Generationen – diese wollen nicht, dass man etwas für sie macht, sondern dass man etwas mit ihnen gemeinsam gestaltet und entscheidet.» Im Fall von Zürich sei eine Verdichtung unumgänglich, diese jedoch optimalerweise etappiert und sorgfältig geplant.

Partner für Weiterentwicklung gesucht
Ein Schlagwort, das wiederholt fällt, ist die «soziale Verdichtung». Auch im Fall von Huttwil empfiehlt Christine Seidler, sozial zu verdichten. Das Prinzip der Nachbarschaften vielseitig zu reaktivieren. Mikrozentren aufzubauen. Gemeinsame Verantwortung für ältere Menschen zu tragen. Sie mit sozialen Projekten einzubeziehen. Fahrgemeinschaften für Senioren aufzubauen.

«Stadtlandschaft 66+» stecke noch in den Kinderschuhen, sagt Christine Seidler über das Projekt, das Potenzial sei erst ansatzweise ausgeschöpft. Gestartet letzten Oktober, haben die Co-Leiterin des Kompetenzbereichs Dencity zusammen mit Assistent Marcel Abegglen einen knappen Monat lang an «Stadtlandschaft 66+» gearbeitet. Nun suchen sie Partner, die sich mit dem demographischen Wandel in der Siedlungsentwicklung auseinandersetzen, um das Modell weiterzuentwickeln. Ob Gemeindeexekutiven, Verwaltungen, Wohnbaugenossenschaften, Bauherren oder Altersverbände, Christine Seidler ist überzeugt, dass sie ihnen mit Lösungsansätzen Antworten auf gesellschaftsrelevante Fragen liefern kann. Natürlich wiederum von Architekt und IT-Enthusiast Marcel Abegglen ästhetisch aufbereitet. Der Anspruch Seidlers bleibt: «Gute Forscher bewegen sich zwischen Trends und Gegentrends und setzen sich mit den Spannungsfeldern auseinander.»

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«Wir freuen uns sehr auf Biel»
Hanspeter Bürgi leitet an der BFH den Masterstudiengang Architektur. Der Architekturdozent über die zukünftigen Perspektiven des Campus in Biel für die Studierenden.


Hanspeter Bürgi: Leiter Masterstudiengang Architektur, BFH

Hanspeter Bürgi, wie stark beeinflusst Architektur den Menschen?
Hanspeter Bürgi: Sehr stark. Die Behausung ist ein Grundbedürfnis des Menschen, die Interaktion zwischen Raum und Mensch ist zentral. Es wirken räumliche, technische, soziale, atmosphärische und viele weitere Aspekte miteinander. Die Ansprüche an die Ausbildung in diesem Fachgebiet sind also hoch.

Unter diesen Aspekten betrachtet, was sind Ihre Gefühle zum neuen Campus in Biel?
Wir freuen uns sehr auf Biel, auf den Campus, auf die erweiterten Möglichkeiten für Lehre, Forschung und vor allem auf ein verstärktes Zusammenarbeiten zwischen den Fachbereichen.

Werden BFH-Architekturstudierende zukünftig also mehr mit anderen Fachdisziplinen interagieren?
Definitiv. Die räumliche Nähe bietet das Potenzial, wir müssen dies nutzen und entsprechende Strukturen schaffen.

Haben Sie die Architektur des Campus mitgestaltet?
Der Campus ist Resultat eines Architekturwettbewerbs. Persönlich bin ich punktuell bei diversen Gestaltungsfragen oder der Lehrentwicklung dabei. Zum Beispiel: Wie bringen wir die verschiedenen Kulturen zusammen und schaffen eine gute Basis, damit trotz unterschiedlicher Lehrpläne Kooperationen zwischen den einzelnen Disziplinen möglich werden. Dazu braucht es Offenheit und gemeinsame Gefässe.

Welche Gefässe?
Bereits heute arbeiten Architekturstudierende in Entwurf und Konstruktion an Semesterprojekten. Wir streben in allen Studiengängen über das ganze Semester gemeinsame Zeitfenster für Projekte an. Weiter planen wir Blockwochen für interdisziplinäre Projektarbeiten.

Im Masterstudium wird kritischem Denken in Bezug auf Architektur und Gesellschaft ein hoher Stellenwert beigemessen?
Bachelorstudierende lernen das Handwerk, beim Masterstudium geht es darum, die Komplexität zu steigern. Die Studierenden lernen, selbstkritisch eine architektonische Haltung zu vertreten, ihre Position zu finden. Architektur erfordert Umsicht. Das Masterstudium soll das Gespür für diese Verantwortung schärfen.

Was erwartet die Studierenden im Herbstsemester Neues?
Wir haben im Masterstudium vier Blöcke mit unterschiedlichen Massstabsebenen von Small bis X-Large. Aktuell beschäftigen wir uns mit Arealentwicklungen in Burgdorf und mit mehrgeschossigem Holzbau. Im Herbst werden die Objekte kleiner. Vorgesehen ist, dass wir Alternativen zu den oft gestalterisch fragwürdigen Hütten an Weihnachtsmärkten planen und Prototypen bauen.

Holzarchitektur hat wegen der CO2-neutraleren Bauweise grosses Zukunftspotenzial. Warum ist die BFH die einzige Fachhochschule in der Schweiz, die einen Schwerpunkt Holz im Masterstudiengang anbietet?
Das hat mit der traditionellen Ausbildung von Holzbauingenieuren in Biel zu tun. Diese gewachsene Struktur ermöglicht, dass wir seit vier Jahren im Master Architektur zwei Schwerpunkte anbieten: Architektur und Holz sowie Architektur und Areal.

Neben den zwei Schwerpunkten gibt es als dritte Möglichkeit das Studium «à la carte».
Ja, die Masterstudierenden haben innerhalb des Lehrplans Optionen: Entweder sich auf einen der beiden Schwerpunkte konzentrieren, oder die Fächer individuell zusammenstellen.

Arbeiten die Architekturstudierenden an praxisorientierten Projekten?
Da wir bei der Holzbauforschung stark mit der Wirtschaft zusammenarbeiten, profitieren auch die Architekturstudierenden von diesen Kooperationen. Im Herbstsemester planen wir zusammen mit Unternehmen, die Prototypen zu bauen. Praxisbezug ist zentral. So führen Dozierende in der Regel auch ihre eigenen Architekturbüros. Meine Forschung findet zurzeit im Büro statt. Zudem ist unser Lehrteam immer interdisziplinär: Architektur, Holzbauingenieur, Denkmalpflege, Bauphysik, etc.

Zum Schwerpunkt Areal: Lernen Ihre Studierenden Mittel gegen die Zersiedelung?
Die Mittel sind vielfältig. Wir beschäftigen uns jedoch weniger mit den übergeordneten raumplanerischen und städtebaulichen Themen, sondern fokussieren auf die Ebene des Quartiers, der Siedlung, des Ensembles, des Areals eben. Hier liegt Potenzial für Entwicklung und zukunftsfähige architektonische Qualitäten.

Sie arbeiten mit Dencity zusammen. Wie?
Jedes Frühlingssemester arbeitet der ganze Fachbereich mit einer Partnergemeinde zusammen. Dieses Semester ist es Burgdorf. Dencity bereitet vor, begleitet und kann im Idealfall aus Erkenntnissen der Studierendenarbeiten weitere Forschungsthemen vertiefen. Interview: Marc Schiess

Impressum: Dieser Artikel ist eine Co-Produktion des Departements Architektur, Holz und Bau der Berner Fachhochschule und des «Bieler Tagblatt». Die BFH ist als Partnerin in die Themenplanung involviert. Die redaktionelle Hoheit liegt bei der Redaktion. Die Seite erscheint einmal pro Monat im «Bieler Tagblatt» und im «Journal du Jura».

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