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Nidau

«Die 30 Stunden Administration pro Woche würde ich gerne abgeben»

Der Nidauer Hausarzt Christian Hänggli bietet ein breites Spektrum von medizinischen Behandlungen an. Trotz seines immensen Arbeitspensums hält er sich nicht für burnoutgefährdet.

Christian Hänggli ist erst 56, wird aber, bis er aufhört, keine neuen Patienten mehr annehmen können. Peter Samuel Jaggi
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Aufgezeichnet: Beat Kuhn

Ursprünglich stamme ich aus dem Aargau, genauer gesagt aus dem Freiamt im Reusstal. Als ich in Bern studierte, lernte ich meine erste Frau kennen, eine waschechte Emmentalerin. Nach Nidau verschlagen hat es uns einerseits, weil sie gerne an einen See wollte, und andererseits, weil ich Hans Hafner kannte, von dem ich 2001 diese Praxis habe übernehmen können – wir waren an der Uni beide bei den Berner Singstudenten. Als ich neu hier war, bekam ich die Frage zu hören, ob ich wahnsinnig sei, in eine so neblige Gegend zu ziehen. Da erwiderte ich: Ihr habt ja keine Ahnung, was Nebel ist (lacht). Denn verglichen mit der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, ist der Nebel hier nichts. 2003 ist meine erste Frau gestorben. Seit 14 Jahren lebe ich in nun einer festen Beziehung, wohne aber nicht mit meiner Partnerin zusammen, die nicht in der Region lebt. Kinder habe ich keine.

Mittlerweile bin ich also genau 20 Jahre hier. Bei der Arbeit unterstützt werde ich von vier Medizinischen Praxisassistentinnen mit insgesamt 220 Stellenprozenten. Eine von ihnen hat eine Zusatzausbildung als Diabetes-Beraterin. Sie entlastet mich von den unkomplizierten Fällen und berät die Diabetikerinnen und Diabetiker auch punkto Ernährung und Medikamente. Das bringt neben der Zeitersparnis für mich auch mehr Beratungsqualität für die Betroffenen, weil sich die Beraterin mehr Zeit nehmen kann als ich.

Wie viele Einzelpraxen ist auch meine auf Jahre hinaus ausgelastet. Ich bin jetzt 56 und werde, bis ich aufhöre, keine neuen Patientinnen und Patienten mehr annehmen können. Eine Website mit dem Slogan «der Hausarzt mit Herz» habe ich also nicht, um Werbung zu machen, denn die brauche ich nicht. Er soll vielmehr meine Methode auf den Punkt bringen: Ich gehöre nicht zu den rein somatisch ausgerichteten Ärzten, deren Fokus auf den Körper beschränkt ist, sondern habe eine ganzheitliche Betrachtungsweise. Der Fachbegriff dafür ist biopsychosoziale Medizin. Diese sieht den Menschen nicht als Maschine, sondern als Mischung aus dem biologischen, psychischen und sozialen Wesen, das er ist. Dabei gibt es eine Wechselwirkung: Chronische Schmerzen zum Beispiel führen unweigerlich zu einer Depression. Die Depression wiederum verstärkt die Schmerzwahrnehmung. Und wer permanent Schmerzen hat, ist deswegen allenfalls ein unangenehmer Zeitgenosse.

Die sogenannte Manuelle Medizin, die ich anbiete, ist mit der Chiropraktik verwandt. Dabei ertaste ich zuerst, wo genau die Beschwerden sitzen, dann behandle ich die Ursachen mit gezielten Handgriffen. Wenn jemand zum Beispiel eine eingeklemmte Rippe und kaum noch Luft zum Atmen hat, kann eine ruckartige Manipulation bewirken, dass er von einem Moment auf den anderen schmerzfrei ist.

In meinen Gesprächstherapien behandle ich keine seelischen Erkrankungen, denn ich bin nicht Psychiater. Vielmehr berate ich Menschen in schwierigen Situationen, sei es wegen eines Konfliktes am Arbeitsplatz, der Gefahr eines Burnouts oder wegen Depressionen. So ein Gespräch ist fast eine Art Coaching und dauert in der Regel nicht mehr als eine halbe Stunde. Wenn jemand vertiefte Hilfe braucht, überweise ich ihn an einen Psychiater.

Die kleinen chirurgischen Eingriffe, die ich mache, sind Dinge wie die Behandlung von Warzen, die Entfernung kleiner Hauttumore, Wundbehandlung und Wundkontrolle, das Entfernen von Fäden nach grösseren Operationen oder das Entfernen von Zecken und anderen Fremdkörpern. Das Know-how dafür habe ich mir als Belegarzt an der Hirslanden-Klinik Linde in Biel erworben. Seit Jahren assistiere ich dem dortigen Wirbelsäulen-Orthopäden bei Operationen von Patientinnen und Patienten aus meiner Praxis.

Und schliesslich stehe ich für Fragen aus dem Gebiet der Reisemedizin zur Verfügung. Da kommt zum Beispiel ein junger Mann und sagt, er plane, drei Monate durch Asien zu reisen. In diesem Fall schaue ich in seinem Impfbüchlein nach, welche dafür nötigen Impfungen er schon hat und welche er noch braucht. Wenn er ein Rucksacktourist ist, muss er zum Beispiel gegen Starrkrampf, Hepatitis A, Tollwut oder Japanenzephalitis geimpft sein. Es gibt auch je nach Land bestimmte Verhaltensregeln zu beachten, also beispielsweise, ob man an einem Take-away-Stand an der Strasse ruhigen Gewissens etwas kaufen kann oder, ob man Lebensmittel nur gekocht essen sollte. In gewisse Länder kommt man ohne bestimmte Impfbescheinigungen gar nicht rein. Für Fragen zur Pandemie muss ich meine Patientinnen und Patienten an die jeweilige Botschaft verweisen. Denn das, was heute gilt, kann schon morgen überholt sein, da kann ich nicht aktuell genug sein.

Neben der hausärztlichen Tätigkeit bin ich auch noch vertrauensärztlich tätig: Für das Bundesamt für Zivilluftfahrt mache ich Gesundheitschecks bei Piloten, für das kantonale Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt Kontrollchecks bei Lastwagenfahrern und Schiffslenkern. Zur Luftfahrt bin ich durch meinen Vorgänger Hans Hafner gekommen. Er war nur zu 40 Prozent Hausarzt, denn zu 60 Prozent war er Chefarzt des Bundesamtes für Zivilluftfahrt – ein Posten, der heute ein Vollzeitjob ist. Er hat mir damals geraten, wie er selbst die Ausbildung zum fliegerärztlichen Vertrauensarzt zu machen. Zur Fliegerei habe ich insofern eine Beziehung, als ein älterer Bruder von mir eine Privatpilotenlizenz besass  und ich schon mit 14 Jahren erstmals einen Steuerknüppel in der Hand gehalten habe. Ich selbst habe die Lizenz nicht.

Meine durchschnittliche Arbeitswoche ist um die 70 Stunden lang – kürzlich sind es wieder mal 95 geworden. In der Ausbildung zum Arzt habe ich sogar bis zu 120 Stunden arbeiten müssen. Da blieb von den 168 Stunden, die eine Woche hat, nicht mehr viel übrig, aber das darf man heute zum Glück gar nicht mehr. Burnoutgefährdet bin ich aber nicht, denn ich tue gerne, was ich tue, und achte darauf, dass genügend Regenerationszeit bleibt. Ich bin seit 20 Jahren in einer Supervisionsgruppe, welche die Belastung im Auge behält. Zweimal im Jahr verbringen wir sogar eine Woche zusammen. Die Praxis ist 35 Stunden pro Woche geöffnet. Die Arbeit in der Klinik Linde eingerechnet, arbeite ich um die 40 Stunden am Patienten. Die übrigen rund 30 Stunden verbringe ich am Schreibtisch. Diesen administrativen Teil der Arbeit würde ich gerne abgeben, aber das geht nicht. Ich habe zwar eine Sekretärin, aber einen ärztlichen Bericht oder eine Überweisung an einen Fachkollegen kann nun mal nur ich selber schreiben.

Meine Lebenspartnerin, die Kinderphysiotherapeutin ist, arbeitet ebenfalls sehr viel. So können wir beide unserer beruflichen Passion nachgehen und haben dann ab 23 Uhr eine Open-end-Telefonsession. Aber wir haben wohl mehr Austausch als manche Paare, die sich jeden Tag sehen. Ein Hobby wie eine Modelleisenbahn oder eine Briefmarkensammlung habe ich nicht. Aber ich bin gerne in der Natur oder mit Freunden zusammen. Die bekoche ich auch gerne, und zwar gut, wie ich finde.

Stichwörter: Mein Montag, Nidau, Hausarzt

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