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Langlebigkeit

Die älteste Schweizerin feiert in Orvin

Marie Guerne ist 109 Jahre alt. Lange war nicht klar, ob sie damit den Schweizer Rekord an Langlebigkeit hält. Nun ist genau dies erwiesen – ein Grund zum Feiern. Nebenbei ahnt man, was genau das Geheimnis des langen Lebens ist.

Marie Guerne, Bild: Théophile Bloudanis

Théophile Bloudanis/pl

Marie Guerne wurde am 26. März 1912 geboren und ist damit die älteste lebende Person in der Schweiz. Die betagte Dame wohnt im Seniorenheim Les Roches in Orvin und ist Zeugin der geschichtlichen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts.

Im Speisesaal der Seniorenresidenz Les Roches in Orvin herrscht festliche Atmosphäre. Ein Koch tranchiert Parmaschinken. Die Pensionärinnen und Pensionäre sitzen an ihren Tischen und geniessen belegte Brötchen. Alle feiern ihre Mitbewohnerin Marie Guerne, die im Kreis von Angehörigen den 109. Geburtstag begeht. Damit ist die betagte Dame die älteste Einwohnerin der Schweiz.

Eine Kindergartenklasse aus dem Dorf gibt ein Ständchen mit Weihnachtsliedern. Die Gäste und die Jubilarin sind gerührt. «Hier treffen sich mehrere Generationen», meint der Leiter der Residenz, Stéphan Chopard.

Auch Gemeindepräsident Patrik Devaux war erschienen und zeigte sich «stolz, dass die ‹Doyenne› der Schweiz in seinem Dorf lebt». Ihr hohes Alter sei wohl der gesunden Luft von Orvin geschuldet, witzelte er.

Marie Guerne antwortete mit einem Lächeln, und als tosender Applaus anhob, warf sie der Kinderschar mit der Hand einen Gruss zu. Die Kleinen wirkten sichtlich beeindruckt von der zierlichen alten Dame.

 

Das Radio gab es noch nicht

Jean-Pierre Guerne, der Sohn der über Hundertjährigen, ergriff das Wort und erinnerte an historische Meilensteine auf dem langen Lebensweg seiner Mutter: Sie wurde geboren, bevor das Radio erfunden war (1914); Nylon gab es viel später (1935); die Medizin kannte die Segnungen von Penicillin und Antibiotika noch nicht (1928); die Stummfilme erhielten die Tonspur (1926); Königin Elisabeth kam vierzehn Jahre später auf die Welt (1926). Marie Guerne wurde Zeugin von weltbewegenden Ereignissen, technischen Umwälzungen, aber auch von Leid und Tragödien. Der Sohn liess einige Meilensteine Revue passieren: der Transatlantikflug von Charles Lindbergh, die beiden Weltkriege, die Abenteuer von Tim und Struppi, die grosse Pandemie der Spanischen Grippe, die dunkle Zeit des Nationalsozialismus und des Faschismus, aber auch die Eroberung des Weltalls.

«Trotz der tiefgreifenden Veränderungen hat meine Mutter nicht vergessen, dass eine Laus ein Parasit und die Maus ein kleines Nagetier ist», scherzte der Sohn an der Geburtstagsfeier.

 

Luzern - London - Paris

Marie Guerne wurde am 26. März 1912 in Luzern geboren und erlernte den Beruf einer Schneiderin. Sie reiste für einen Sprachaufenthalt nach London. In Paris und St. Moritz bildete sie sich bei verschiedenen Modeateliers weiter. «Sie war eine Reisende, die viel unternommen und gelernt hat», bestätigt ihr Sohn, der früher als Sekundarschullehrer tätig war.

Dennoch bewundert er seine Mutter für das hohe Alter: «Als sie in die Seniorenresidenz nach Orvin zog, war sie überzeugt, den ersten Winter nicht zu überstehen. Und seither sind 17 Jahre vergangen», freut sich Jean- Pierre Guerne.

Vielleicht liegt das Geheimnis des langen Lebens in der unermüdlichen Kreativität der Jubilarin, die sie mit der künstlerischen Bearbeitung von Speckstein ausdrückte. Der Sohn hat Bilder ihrer Plastiken in einem Büchlein zusammengestellt. In den kleinen Kunstwerken erkennt er eine «überbordende Inspiration». Seine Mutter habe ihre «kindliche Seele bei der Gestaltung der Steine bewahrt und sei stets mit neugierigem Blick durchs Leben gegangen».

Stéphan Chopard beschreibt die alte Dame als «sehr autonom» im Rahmen der Seniorenresidenz: «Ich empfinde Demut vor diesem langen Lebensweg.» Immerhin stünden wir vor der Zeugin einer wesentlichen Epoche der Menschheitsgeschichte.

Obwohl sie auch dunkle Zeiten erlebt hat, schaue sie mit Zuversicht auf das Geschehen. «Diese fortwährend freundliche Einstellung zum Leben ist für uns alle eine grosse Lektion», sagt Chopard.

 

Nicht einfach zu beweisen

Den Beweis zu erbringen, dass Marie Guerne tatsächlich die älteste Einwohnerin im Land ist, begann für den Leiter der Résidence Les Roches als Hürdenlauf durch die Verwaltungen: Das Bundesamt für Statistik gab keine Auskunft. Auch das städtische Zivilstandsamt hielt sich bedeckt, obwohl Guerne Bielerin ist.

Erst vor einigen Jahren stiess Chopard auf eine neue Piste: «Ein Student, der an einer Untersuchung über ‹Supersenioren› teilnahm, konnte anhand amtlicher Dokumente erhärten, dass unsere Pensionärin wirklich die älteste Einwohnerin der Schweiz ist.»

Inzwischen hat eine zweite wissenschaftliche Studie, die als «Swiss 100» geführt wird, die Erkenntnisse bestätigt. Es handelt sich um ein Gemeinschaftswerk verschiedener Universitäten des Landes zugunsten des breiten Publikums. Darin werden die Lebensumstände und Bedürfnisse von Menschen im hohen Alter beschrieben.

«Jetzt wissen wir mit Sicherheit, dass Marie Guerne den Rekord der Langlebigkeit hält», freut sich Stéphan Chopard. Grund genug, der Jubilarin ein schönes Fest auszurichten.

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