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«Die Ärzte legten den Hungerstreik als Selbstmordversuch aus, aber es war eine politische Handlung»

Peter Hans Kneubühl hatte vor sieben Jahren die Region Biel in Atem gehalten. Fast zehn Tage war er auf der Flucht, bis er verhaftet wurde. Im Lindenquartier hatte er auf Polizisten geschossen und einen der Polizisten schwer verletzt. Die Gerichte erachteten ihn als schuldunfähig und ordneten eine stationäre Therapie an. Der 74-jährige Kneubühl erzählt, wie er im Regionalgefängnis Thun lebt und warum er immer wieder in den Hungerstreik trat. Und wie ihm während zweier Streiks Psychopharmaka verabreicht wurden.

Peter Hans Kneubühl: «Die Ärzte sagten, ich müsse Medikamente nehmen, die mich beruhigen. Aber ich war nie unruhig oder selbstmordgefährdet.» Bild: Lino Schaeren
  • Dossier

Ob und wie man einen Hungerstreikenden im Kanton Bern zwangsernähren darf, ist im Gesetz über den Straf- und Massnahmenvollzug (SMVG). Dort heisst es im Artikel 61, dass «die Leitung der Vollzugseinrichtung eine unter ärztlicher Leitung und Beteiligung durchzuführende Zwangsernährung anordnen» könne, «sofern Lebensgefahr oder eine schwerwiegende Gefahr für die betroffene Person» bestehe. Über eine allfällige Zwangsernährung war im Fall von Peter Hans Kneubühl zu Beginn dieses Jahres öffentlich diskutiert worden. Denn der als «Amok-Rentner» von Biel bekannt gewordene 74-Jährige trat gleich zweimal in den Hungerstreik, um seine Verlegung von der Justizvollzugsanstalt Thorberg respektive der geschlossenen Abteilung der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) zurück ins Regionalgefängnis Thun zu erzwingen. Wie ernst es Kneubühl, der von den Gerichten zu einer stationären Therapie verurteilt wurde, nachdem er einen Polizist mit einem Schuss in den Kopf schwer verletzt hatte, war, zeigte sich daran, dass er die Hungerstreiks mit 36 und 44 Tagen ausgesprochen lange durchhielt.

Als Kneubühl im Interview mit dem BT über seine Nahrungsverweigerung und sein Leben im Gefängnis davon sprach, dass die Zwangsmedikation vom Amt für Justiz angeordnet worden sei, erklärte der ihn interviewende Journalist, dass dies unmöglich sei, da sich kein Arzt von einem Juristen eine Therapie vorschreiben lasse. Allein ein dem BT vorliegendes Dokument scheint Kneubühl Recht zu geben. «Gemäss einem Beschluss des Oberrichtes Josi» vom 23. Juni wurde eine «ärztliche Behandlung ohne Zustimmung des Patienten nach Artikel 61 bis 65 SMVG» durchgeführt. Und zwar mit den Neuroleptika, im Volksmund Psychopharmaka genannt, Zyprexa und Cloxipol. Das Ziel war es, den Hungerstreik zu brechen: das «Abwenden der akuten Selbstgefährdung» durch die «anhaltende Nahrungsverweigerung».  

Ob die erwähnten Artikel der SMVG auch Psychopharmaka beinhalten, ist unter Juristen zumindest umstritten. Ein Rechtsanwalt mit Erfahrung mit Hungerstreikenden, der nicht namentlich genannt werden möchte, teilte dem BT mit, dass er die zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka, «absolut und unter allen Umständen» als unzulässig erachte. Die SMVG deckten seines Erachtens Neuroleptika nicht ab. Das bernische Amt für Justizvollzug war nicht bereit, dem BT Antworten auf konkrete Fragen zu geben.

 

Interview: Peter Staub


Peter Hans Kneubühl, wie geht es Ihnen heute mental und körperlich?
Peter Hans Kneubühl: Mir geht es einigermassen gut.


Sie sind innerhalb von kurzer Zeit zweimal einen Hungerstreik getreten. Wie haben Sie sich davon erholt?
Ich habe insgesamt sogar drei Hungerstreiks gemacht. Davon habe ich mich ziemlich gut erholt. Man spürt, dass man älter wird. Ein Hungerstreik ist eine Belastung, aber es ging erstaunlich gut.


Das erste Mal verweigerten Sie die Nahrung, als Sie in die Anstalt Deitigen verlegt wurden.
Damals wurde ich danach aus medizinischen Gründen ins Spital verlegt, weil ich ein Vorhoflimmern hatte. Und nach zehn Tagen wurde ich nach Thun zurückgeschickt.


Die neuste Auseinandersetzung mit dem Amt für Justizvollzug (AJV) begann nach Ihrer Verlegung auf den Thorberg.
Das AJV hatte angekündigt, dass ich verlegt werden sollte, fand aber keinen Platz für mich. Auch Deitigen war eine Verlegenheitslösung. In der Klinik Rheinau im Kanton Zürich gab es ebenfalls keinen Platz. Das AJV erhielt von der Justizvollzugsanstalt (JVA) Thorberg das Einverständnis, mich aufzunehmen. Allerdings nicht in die psychiatrische Abteilung, da diese vom neuen Thorberg-Direktor geschlossen worden war. Ich war gegen diese Verlegung.


Warum wehrten Sie sich gegen diese Verlegung? Thun ist nicht für längere Haftzeiten eingerichtet. Auf dem Thorberg hätten Sie Beschäftigungsmöglichkeiten.
Der schöne Blick auf die Berge in Thun ist nicht der Grund. Jeder Mensch ist anders. Für mich war die Situation so, dass ich Urteil und Strafe nicht akzeptiere. Deshalb verlangte ich, dass ich in Untersuchungshaft bleibe, bis der Fall richtig untersucht wird.


Sie haben die Rechtsmittel gegen das Urteil ausgeschöpft.
Im Prinzip habe ich keine Rechtsmittel mehr. Aber wenn ein Urteil falsch ist, dann muss man weiter dagegen kämpfen, bei der Presse, bei der Politik. In dem Sinn ist der Prozess nie abgeschlossen.


Für Sie war es also ein symbolischer Kampf?
Ja, hier bin ich gewissermassen immer noch in Untersuchungshaft, auf dem_Thorberg wäre ich im Strafvollzug.


Sie sind bereits im Strafvollzug.
Das weiss ich nicht. Hier gibt es Leute, die im Vollzug sind, und Leute, die sich in Untersuchungshaft befinden. Mir geht es darum, welchen Status ich habe.


Es war also nicht die schöne Alpensicht, die Sie bewegt hat?
Ja, die Aussicht hat überhaupt keine Rolle gespielt. Ich bin nun 74 Jahre alt. Viele Junge halten es fast nicht aus, hier eingesperrt zu sein. Auf dem Thorberg muss man arbeiten und man isst in einer Gruppe. Hier ist jeder für sich. Was für die Jungen todlangweilig ist, spielt für mich keine Rolle.


Lange Einzelhaft verstösst gegen die Menschenrechte. Haben Sie ein Dokument unterschrieben, dass Sie sich freiwillig in Einzelhaft befinden?
Nein, aber ich habe viele Briefe geschrieben, in denen ich dargelegt habe, dass ich freiwillig hierbleibe.


Wie sieht Ihr Alltag aus?
Alles ist streng geregelt. Ich bin in einer Einerzelle, weil ich alleine sein will. Der Tag beginnt um 7 Uhr. Dann kann ich duschen gehen. Jeden Tag kann ich eine Stunde lang in einem kleinen Innenhof auf dem Dach spazieren gehen, wo ich dann im Kreis laufe.


Sind Sie bei diesem Spaziergang allein oder in der Gruppe?
Wir sind hier rund 110 Gefangene, die in sechs Gruppen organisiert sind. Ich bin immer mit der gleichen Gruppe zusammen, die aus etwa zwölf Personen besteht.


Knüpfen Sie bei diesen Hofgängen Freundschaften?
Ja, ich führe sehr viele Gespräche. Hier befinden sich sehr interessante Menschen, die aus vielen Ländern kommen. So bin ich momentan der einzige Schweizer in meiner Gruppe. Manche haben viel durchgemacht, waren etwa im Krieg. Vieles, was man sonst in Zeitungen liest, bekommt man hier direkt mit. So hatte ich Kollegen aus Afrika, die von Tunesien übers Mittelmeer nach Italien geflüchtet waren. Das gibt mir eine ganz andere Beziehung zur Weltpolitik.


Aber diese Insassen bleiben nicht so lange hier wie Sie?
Nein. Das muss man sich wie ein Hotel vorstellen: Es ist ein ständiges Kommen und Gehen.


Und Sie spielen quasi die Rolle des Concierge?
Ich bin am längsten hier. Aber das spielt keine grosse Rolle. Es gibt nur wenige Kontakte, die länger als ein halbes Jahr andauern.


Sind Sie auch ein Ratgeber?
Das wird man fast automatisch. Ich verstehe nicht viel von der Justiz, aber mit elementaren Sachen, wie der Verlängerung der Untersuchungshaft, kenne ich mich aus. Zudem haben viele grosse Sprachprobleme. Ihnen helfe ich teilweise, Dokumente zu übersetzen.


Sind das die Höhepunkte Ihres Tages?
Ja, sonst bin ich 23 Stunden am Tag eingesperrt. Aber auch diese Zeit wird immer wieder unterbrochen. Zum Beispiel durch die Lieferung der Mahlzeiten.


Wie ist das Essen?
Es ist meistens gut. Es ist wie in einer Fabrikkantine. Aber man isst, was geliefert wird.


Und was machen Sie sonst?
Ich arbeite ständig an meiner Verteidigung, schreibe also sehr viel.


Wem schreiben Sie?
Meistens sind das Briefe an die Behörden, manchmal beantworte ich private Briefe. Aber ich werde immer noch massiv von den Behörden angegriffen.


Wieso? Sie sind doch hier im regulären Strafvollzug.
Es geht um den Strafvollzug und um die Frage, ob ich verwahrt werde oder ob ich in einem Psychiatriegefängnis verschwinde. Im Moment ist das AJV daran, das bestehende Urteil zu vollziehen, also eine stationäre Therapie.


Ihre Verfassung wird regelmässig überprüft, um festzustellen, ob eine stationäre Therapie weiterhin notwendig ist.
Das bedeutet für mich: lebenslänglich. Weil ich an meiner Position festhalte.


Zurück zu Ihrer Haftsituation: Haben Sie einen Fernseher in der Zelle?
Ich habe keinen Fernseher, weil ich keinen will. Aber ich höre regelmässig Radio. Vor allem Nachrichtensendungen auf SRF_1. Die Auswahl der Zeitungen ist beschränkt. Neben einer Pendlerzeitung gibt es das «Thuner Tagblatt» und hin und wieder den «Bund». Aber es ist Glücksache, ob man eine Zeitung erhält, da es viele Insassen und wenig Exemplare gibt. Für das Abonnement einer Zeitung habe ich kein Geld.


Wie steht es generell um Ihre finanziellen Verhältnisse?
Schwierig. Im normalen Strafvollzug muss man arbeiten und erhält dafür Lohn. Das kann bis 600 Franken pro Monat sein. Hier gibt es aber keine entsprechende Arbeit. Ich erhalte weder eine Rente noch Sozialhilfe. Ab und zu gibt mir ein Besucher ein paar Franken, aber das ist sehr wenig.


Kommen wir auf noch einmal auf Ihren Hungerstreiks zu sprechen. Sie sagten, Sie würden wenn nötig bis zum Tod hungern. Wie kam es dazu?
Meine Beschwerden gegen die geplante Verlegung auf den Thorberg hatten nichts bewirkt. So kamen eines Morgens acht Polizisten, die mich auf einen Rollstuhl fesselten und mich mit einem Gefangenentransporter nach Thorberg brachten. Ich versuchte, mich zu wehren, aber der Widerstand war eher symbolisch. Die Behörden des Thorberg wussten, dass ich nicht dahin wollte, da ich sie brieflich darüber informiert hatte. Als ich dort ankam, sagte ich, ich wolle zurück nach Thun. Und als man mir sagte, das sei nicht möglich, trat ich in den Hungerstreik. Obwohl ich eigentlich gegen Hungerstreik bin.


Wie reagierte die Anstalt?
Am zweiten oder dritten Tag kam der Direktor, aber er liess sich nicht auf Diskussionen ein. Alle weiteren Gespräche liefen über meine Kontaktperson in der JVA.


Das war ein Sozialarbeiter?
Der Strafvollzug ist komplizierter organisiert als die Untersuchungshaft. In der JVA_gibt es eine ganze Hierarchie von Leuten mit unterschiedlichen Zuständigkeiten. Ich erhielt eine Kontaktperson, die für mich zuständig war und mich täglich fragte, ob ich den Hungerstreik weiterführen wollte. Ich lehnte nicht nur die Nahrung ab, ich weigerte mich auch, irgendwo mitzumachen. Das wurde respektiert. Also blieb ich 20 Tage im Hungerstreik.


Hatten Sie auch Arztbesuche?
Ich hatte jeden Tag Besuch des Gesundheitsdienstes, die etwa meinen Blutdruck und meinen Blutzuckergehalt massen. Einmal pro Woche besuchte mich ein Arzt, der mich untersuchte. Die Betreuung war relativ gut. Man liess mich nicht einfach so «verrecken».


Es gibt verschiedene Formen des Hungerstreiks. Manche Streikende nehmen gesüssten Tee oder Bouillon zu sich. Welche Form wählten Sie?
Es gibt in der Tat grosse Unterschiede. Bei meinem ersten Hungerstreik nahm ich gar keine Nahrung zu mir und auch nur sehr wenig Wasser, ein bis zwei Deziliter pro Tag. Ich wusste damals nicht, wie gefährlich das ist. Ich war nach zehn Tagen entsprechend fix und fertig. Im dritten Hungerstreik, der 44 Tag dauerte, war ich am Ende in viel besserer Verfassung als nach dem ersten Hungerstreik.


Was haben Sie anders gemacht?
Der grosse Unterschied betraf das Trinken. Ich trank genügend. Und ich habe gelernt, dass ich auch Salz zu mir nehmen musste. Ich wollte mit meinem Hungerstreik etwas erreichen, hatte Behörden und Medien informiert. Bis diese reagieren, dauert es erfahrungsgemäss eine Weile. Wenn man nach zehn Tagen bereits tot ist, hat der Hungerstreik nichts bewirkt. Also muss man Kompromisse schliessen. Deshalb habe ich nach 15 Tagen Vitamintabletten akzeptiert. Ohne diese wäre ich heute tot.


Aber Bouillon oder gesüssten Tee tranken Sie nicht?
Beim zweiten Hungerstreik noch nicht. Aber das spürte ich dann auch. Nach 36 Tagen dachte ich, nun sei Schluss. Ein Problem war wie erwähnt der Salzmangel. Ohne Salz riskieren Sie, dass irgendwann das Hirn oder das Herz einfach abstellen. Deshalb habe ich beim dritten Hungerstreik nach 20, 25 Tagen Salz zu mir genommen. In Form von Hühnerbouillon, ein, zwei kleine Portionen pro Tag, die kaum Kalorien hatten.


Wurde Ihnen diese Bouillon vom Gefängnis angeliefert?
Sie boten mir immer wieder Kaffee und Bouillon an.


Wurden Ihnen auch sonst Mahlzeiten angeboten?
Ja, mir wurden in der ganzen Zeit alle normalen Mahlzeiten in die Zelle geliefert. Das ist Vorschrift. Nach etwa einer halben Stunde wurden die Mahlzeiten wieder von meinem Tisch weggeräumt. Erst ganz am Schluss, als sie sahen, dass ich nie etwas ass, liessen sie die Essenslieferungen sein.


Mit Ihrem zweiten Hungerstreik erreichten Sie, dass Sie vom Thorberg ins Inselspital verlegt wurden.
Nach 20 Tagen auf dem Thorberg war ich geschwächt, aber ich konnte mich noch aufrecht bewegen. Als die Zeitungen über den Hungerstreik berichteten, reagierte der Arzt. Er sagte, mein Hungerstreik sei eine Art Selbstmord, und dass er mich sterben lasse. Sonst behandelte er mich gut. Ich weiss nicht, ob er damit einfach Druck auf mich ausüben wollte. Einen Tag später hörte ich in den Radionachrichten, dass über mich gesprochen wurde, dass ich mich im Hungerstreik und im Endstadium befinde.


Das war, nachdem auch das BT darüber berichtet hatte.
Eine Stunde nach diesem Radiobeitrag wurde ich mit einem speziellen Krankenwagen in die bewachte Station des Inselspitals transportiert. Dort wurde ich medizinisch untersucht. Mir ging es damals relativ gut und ich führte den Hungerstreik weiter. Nach ein paar Tagen kamen zwei Psychiater, einer davon Werner Strik (Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitären Pychiatrischen Dienste Bern UPD, die Red.). Als die mit mir sprachen, merkte ich schon, dass etwas nicht gut war. Kurz darauf erhielt ich den Bescheid des AJV, dass ich in die geschlossene Abteilung der UPD, Etoine, also ins Psychiatriegefängnis, verlegt werden sollte.


Wurde mit Ihnen im Inselspital über das Thema Zwangsernährung gesprochen?
Nein, das war kein Thema. Ich wurde gefragt, ob ich essen wollte, und man hielt mir einen Vortrag, dass ein Hungerstreik gefährlich sei und dass ich genügend trinken müsse. Aber mein Hungerstreik wurde respektiert.


Ein öffentliches Thema war in dieser Zeit, ob Sie eine Patientenverfügung unterschrieben hatten, mit der Sie lebensverlängernde Massnahmen ausschliessen wollten. Haben Sie eine solche Erklärung unterschrieben?
Das ist mir selber nicht ganz klar. Ich hatte bei meinem ersten Hungerstreik in der JVA Solothurn in Deitingen eine Patientenverfügung unterschrieben, dass man mich sterben lassen solle, falls ich ins Koma falle. Ob diese Verfügung dann bei meinen weiteren Hungerstreiks im Kanton Bern immer noch galt, kann ich nicht sagen.


Auf dem Thorberg oder im Inselspital wurde Ihnen nie eine solche Patientenverfügung vorgelegt?
Nein, ich verlangte das auch nicht. Ich machte aber immer klar, dass ich den Hungerstreik notfalls bis zum Schluss durchziehe. Meine Briefe können in diesem Sinn auch als solche Verfügung angesehen werden. Da gab es keine Zweifel.


Wie wurden Sie behandelt, als Sie in die UPD verlegt wurden?
Als ich gegen Abend in der Etoine ankam, wurde ich sofort in ein Spezialzimmer verlegt, das für Zwangsmedikation ausgelegt ist.


Wurden Sie dort angebunden?
Nein, das passiert in einem anderen Zimmer.


Haben Ihnen die Ärzte Medikamente verordnet?
Die Ärzte informierten mich gleich am Anfang, dass ich Medikamente nehmen müsse, die mich beruhigen würden, und dass ich suizidgefährdet sei. Ich war aber nie unruhig und nie selbstmordgefährdet, das war eine Falschanklage. Aber die Ärzte legten meinen Hungerstreik als Selbstmordversuch aus. Dabei war das eine politische Handlung, eine Protestaktion, weil es für mich keine andere Möglichkeit mehr gab, mir Gehör zu verschaffen. Selbstverständlich ging ich damit das Risiko ein, zu sterben.


Und wurden Ihnen dann die Medikamente zwangsweise verabreicht?
Das war eine Flüssigkeit in einem Becher. Ich sagte, dass ich dies nicht freiwillig nehmen würde. Also kamen vier uniformierte Sicherheitsleute der UPD, die mich packten und mich an Armen und Beinen hielten und mich auf dem Bett fixierten. Die Ärzte legten mir eine Infusion über die ich während etwa 45 Minuten intravenös mit Medikamenten versorgt wurde.


Sie wurden während der ganzen Zeit festgehalten?
Ja, ich wurde nicht angebunden, sondern festgehalten. Aber das war immer noch schlimm genug. Das war nackte Gewalt.


Wie haben sich die Medikamente ausgewirkt?
Am Anfang spürte ich gar nichts. Erst nach etwa acht Tagen, während denen ich zweimal täglich in der soeben beschriebenen Art behandelt wurde, sind mir die Medikamente eingefahren. Ich konnte plötzlich nicht mehr richtig reden, sah nicht mehr gut und hatte Angst, ich würde blind. Und ich konnte auch nicht mehr richtig schreiben, weil ich Buchstaben plötzlich zweifach und dreifach geschrieben habe. Das war sehr ungemütlich. Da kriegte ich richtig Angst, dass mein Hirn einen bleibenden Schaden erleiden würde, denn die Zwangsmedikation sollte noch weitere vier Tage dauern. Ich wollte ja mein Leben nicht einfach fortwerfen. Denn ich bin kein Selbstmordkandidat.


Waren diese Folgen die Wirkung der Medikamente oder des Hungerstreiks?
Das verstärkte sich sicher gegenseitig. Ich befand mich damals seit 36 Tagen im Hungerstreik. Der dritte Hungerstreik dauerte 44 Tage. In dieser Zeit wurde ich mit anderen Medikamenten zwangsversorgt, erhielt aber die letzten zwei Wochen nichts mehr. Und nach diesen 44 Tagen fühlte ich mich besser als damals in der UPD nach 36 Tagen. Von daher kann ich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es die Medikamente waren, die zu meinem damaligen Zustand führten.  


Sie haben aber auch erzählt, dass Sie sich beim dritten Mal anders verhielten.
Es kann sein, dass auch der_Salzmangel eine Rolle gespielt hat. Denn beim zweiten Hungerstreik nahm ich zwar Vitamintabletten aber kein Salz zu mir.


Wie wurden Sie in der Etoine während der Zwangsmedikation psychiatrisch betreut?
Es kam immer mal wieder ein Arzt vorbei, aber eine eigentliche psychiatrische Betreuung gab es nicht.


Sie führten keine Gespräche mit Werner Strik?
Doch, wir sprachen stundenlang miteinander. Aber das war keine Therapie. Professor Strik versuchte eine Lösung für das Problem zu finden. Das gab lange, sehr interessante Diskussionen. Er stand selber unter Druck, musste er doch die Zwangsmedikation auf Druck des AJV vornehmen.


Das kann nicht sein. Kein Arzt verschreibt ein Medikament, weil ein Amt das verlangt.
Doch. Dafür habe ich Belege.


Kein Gesetz kann einen Psychiater verpflichten, Ihnen Medikamente zu geben.
Bei mir war das so, dass das AJV die forenisische Psychiatrie anwies, über mich ein Gutachten zu schreiben, das die Zwangsmedikation möglich machte, da ich schwer suizidgefährdet gewesen sei. (Lesen Sie die Stellungnahmen des AJV zu diesen Vorwürfen im untenstehenden Bericht, Anm. der Red.)


Das glaube ich Ihnen nicht. Aber zurück zum Hungerstreik. Wann haben Sie damit aufgehört?
Hier kommt eine auswärtige Person ins Spiel, ein Missionar, der mich regelmässig besucht hat. Ich bin nicht religiös, bin aus der Kirche ausgetreten und sehe mich als Anarchisten. Aber im Gefängnis wird immer missioniert. Mich wollten insgesamt etwa zehn Missionare dazu bewegen, mich zu Jesus Christus zu bekennen.


Die haben Sie alle besucht?
Nein, das geschah schriftlich. Nur einer hat mich immer wieder besucht. Sowohl auf dem Thorberg als auch im Inselspital. In der Etoine gab es während der Zwangsmedikation eine vollkommene Kommunikationssperre, eine vollständige Isolation. Kein Mensch wusste, was mit mir passiert. Ich hätte nicht einmal mit einem Anwalt sprechen dürfen. Dieser Missionar fand aber via AJV heraus, wo ich mich befand. Er fuhr nach Zürich und erreichte, dass Staranwalt Valentin Landmann meinen Fall übernahm. Ich wollte eigentlich nicht, dass er mein Anwalt wird, da er als Milieuanwalt und Verteidiger von Rechtsextremen nicht geeignet war, um mich zu vertreten.  


Und doch übernahm Landmann dann Ihren Fall. Und Sie brachen den Hungerstreik ab.
Wie gesagt, mir ging es damals sehr schlecht. Trotz der Sperre gelang es dem Missionar, mich in der Etoine zu besuchen. Er sagte mir, dass Landmann dafür sorgen wollte, dass ich aus dem psychiatrischen Gefängnis rauskomme. Mir ging es so schlecht, dass ich mich darauf einliess, obwohl ich Landmann gar nicht wollte. Auch weil Professor Strik damit einverstanden war und der Missionar grosszügig einen Teil der Anwaltskosten übernahm. Ich dachte, das sei meine letzte Gelegenheit, mein Leben zu retten. Also brach ich den Hungerstreik ab.


Wie lange dauerte es, bis es Ihnen wieder besser ging?
Das dauerte etwa zehn Tage, bis ich  einen Brief schreiben konnte. Bis die Augen wieder richtig funktionierten, ging es zwei Wochen.


Es dauerte dann aber nicht lange, bis Sie wieder in den Hungerstreik traten.
Ich stellte fest, dass Landmann meinen Fall gar nicht wieder aufrollen wollte. Da löste ich das Mandatsverhältnis auf und begann wieder, für die Rückkehr nach Thun zu kämpfen. Nach 26 Tagen Hungerstreik und 4 Tagen Zwangsmedikation wurde ich wieder ins Spital verlegt, wo die Zwangsmedikation weitergeführt wurde, mit einem neuen Medikament, das mir als Depot gespritzt wurde. Das führte zu massiven gesundheitlichen Problemen, sodass es abgesetzt wurde. Aber blind wurde ich nicht mehr. Danach wurde ich wieder in die Etoine verlegt. Ich war immer noch im Hungerstreik, trank aber Bouillon.


Dann wurden Sie doch sehr unerwartet nach Thun verlegt.
Ein Vertreter des AJV besuchte mich und versprach mir, seinen Chef zu fragen, ob eine Rückkehr nach Thun möglich sei. Und plötzlich hiess es, nach 44 Tagen Hungerstreik, dass das AJV beschlossen habe, ich könne nach Thun.


Was heisst das für Sie? Gibt es eine neue Perspektive?
Ich habe keine Garantie, dass ich in Thun bleiben kann. Ich kämpfe weiter, verweigere weiter jede Therapie und verlange, dass eine parlamentarische Untersuchungskommission meinen Fall untersucht, denn es handelt sich um einen Justizskandal.

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Viele Fragen – wenige Antworten
Die Aussagen von Peter Hans Kneubühl werfen Fragen auf. Das BT_hat sowohl dem bernischen Amt für Justizvollzug (AJV) als auch den Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) und Rechtsanwalt Valentin Landmann zahlreiche konkrete Fragen gestellt. Zum Beispiel, wer die Zwangsmedikation tatsächlich anordnete. Auf all diese Fragen gab es von Nicole Wey, Chefin Stabsdienste und Mitglied der Geschäftsleitung AJV bloss die folgende Antwort.
«Die im Interview gemachten Aussagen entsprechen den persönlichen Erinnerungen und Einschätzungen von Herrn Kneubühl, welche sowohl vom AJV als auch von den UPD zur Kenntnis genommen wurden. Aus diesem Grund wird darauf verzichtet, diesen Inhalt beziehungsweise die gestellten Fragen weiter im Detail zu kommentieren.» Kneubühl sei bereits in mehrere Vollzugseinrichtungen eingewiesen worden. Er habe «nach den therapeutischen Bemühungen der Fachleute der UPD seinen Hungerstreik abgebrochen und eine neue Zukunftsperspektive entwickelt». Um diese Perspektive auszubauen und das weitere Vorgehen zu planen, befinde er sich nun im Regionalgefängnis Thun. Wie diese Perspektiven aussehen, wollte das AJV nicht präzisieren.
Rechtsanwalt Valentin Landmann teilte bloss mit, dass er «amtlicher Verteidiger von Herrn Kneubühl im Vollzugs- und Massnahmenverfahren» sei. Nähere Angaben könne er «ohne Ermächtigung von Herrn Kneubühl wegen des Anwaltsgeheimnisses nicht machen». pst

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Kommentar

von Peter Staub

Peter Hans Kneubühl ist kein einfacher Fall. Die Gerichte haben entschieden, dass er kein Verbrecher, sondern ein kranker Mann ist. Dennoch hat auch Kneubühl ein Recht darauf, als Mensch respektiert zu werden. Etwa so, wie das UPD-Professor Werner Strik im Februar dieses Jahres an einer Medienorientierung tat, als er Kneubühl attestierte, «sehr intelligent» zu sein, und von einem «respektvollen Dialog» sprach. Dass Kneubühl zu dieser Zeit gegen seinen Willen mit Psychopharmaka vollgepumpt wurde, war allerdings kein Thema. Dass die Behörden sich heute hinter einem dürren Communiqué verstecken, statt Klartext zu sprechen, ist ein Armutszeugnis sondergleichen.

E-Mail: pstaub@bielertagblatt.ch

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