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Gesellschaft

Die Menschen können einfach nicht voneinander lassen

Der Drang ist unwiderstehlich. Noch immer tummeln sich zu viele Menschen in der Öffentlichkeit und halten nicht genügend Abstand. Darunter auch Seniorinnen und Diabetiker. Die Stadt Biel reagiert mit mehr Patrouillen. Die Pärke bleiben vorerst offen.

Biel: Zwei Senioren wagen sich für den Einkauf in die Stadt. Bild: Matthias Käser
  • Dossier

Rachel Hämmerli

Das Schweizer Radio spielt einen Hit und wir drehen auf volle Lautstärke. Plötzlich folgt eine Empfehlung des Bundes. Wir drehen das Volumen herunter, die Mitteilung ist auch leise eindringlich: Bleiben Sie zu Hause! Insbesondere wenn Sie alt oder krank sind. Trotzdem pilgern Senioren und Seniorinnen an die Seepromenade in Biel, wo Jogger an ihnen vorbeirennen.

Noch immer tummeln sich zu viele Menschen in der Öffentlichkeit. Die Stadt Biel verstärkt deshalb den stadteigenen Patrouillendienst – genannt SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention). Die SIP kümmert sich um das Wohlergehen der Bevölkerung, besitzt aber keine Polizeigewalt. André Glauser ist Sicherheitsbeauftragter der Stadt Biel und führt die SIP. Er stellt fest, dass die Passanten kaum Abstand zueinander halten. Die Sünder seien Jung und Alt. Besonders beliebte Orte seien der Strandboden, der Stadtpark oder Schulplätze. Die Stadt wolle vermeiden, die Plätze zu schliessen. Umso wichtiger sei das Verständnis der Bevölkerung. Worauf die Patrouillen selten stossen. «Viele verharmlosen den Notstand», sagt Glauser. Würden verständnislos reagieren, wenn die Patrouille zur Heimkehr auffordert. Als Reaktion befestigt die Stadt mehr Plakate, auf denen die Verhaltensregeln illustriert sind.

Eine belebte Stadt

Auch die Einkaufsmeile in der Nidaugasse ist bevölkert. Dort sehen zwei Polizisten gerade nach dem Rechten. Ein Mann spricht sie an. Ob er noch mit seinen Hunden spazieren dürfe. «Ja, das dürfen Sie», sagt einer der beiden Polizisten. Seit dem Notstand werden sie öfters danach gefragt, was denn jetzt noch gelte. Verbote für Passanten gebe es noch nicht.

Die Fusspatrouille hat bisher keine Gruppen von mehr als fünf Personen vorgefunden. Sollte dies passieren, würden sie gebeten, sich aufzulösen. Noch ist es eine Aufforderung, keine Order. Anders bei Geschäften und Restaurants. Falls sie eines offen antreffen, erfolgt eine Anzeige.

Selbst Diabetiker gehen raus

Gabi Grossen wartet vor dem Coop in Täuffelen auf ihren Mann. Dieser schiebt den Einkaufswagen allein durch die Gänge, weil nicht zwei Personen gleichzeitig aufs Mal rein dürfen. Gabi Grossen sieht sich mit 61 Jahren noch nicht in der Risikogruppe. Aber ihr Mann im Laden sei gefährdet, dieser leide unter Diabetes. Es gäbe zwar Nachbarn, die das Einkaufen übernehmen würden, aber solange das Paar noch hinaus dürfe, erledigen sie es selbst. «Wir wollen jetzt nicht panisch werden», sagt Grossen. Sich zuhause verbarrikadieren sei ihrer Meinung nach der Inbegriff von Panik.

Die 61-Jährige ist nicht allein auf dem Platz. Während des Gesprächs laufen etliche Altersgenossen in den Laden. Dafür habe sie Verständnis. «Die Menschen wollten unter Menschen sein», sagt Gabi Grossen und zeigt gegen den Himmel. Die Sonne sei unverzichtbar. «Für Vitamin – aber auch für das Gemüt.»

Gefährdeten Menschen wie Gabi Grossen und ihrem Mann rät das Bundesamt für Gesundheit ab, sich unter Menschen zu begeben. Am besten lassen sie sich die Einkäufe liefern, etwa von Familienmitgliedern, Freunden oder Nachbarn. Wenn das nicht möglich ist, sind Stosszeiten in Einkaufsläden zu vermeiden. Gleichfalls der öffentliche Verkehr.

Plötzlich reckt Grossens Mann Peter den Kopf durch die Ladentür und bittet seine Frau, den Einkauf zu übernehmen. Es geht um die Auswahl von Hygieneartikeln für Damen. Peter Grossen tritt hinaus. Neuerdings hält er Abstand beim Reden, könnte aber nicht darauf verzichten. Zuhause treffe er sich weiterhin mit seinen Nachbarn im gemeinsamen Garten. «Jetzt halten wir zwei Meter Abstand», sagt Grossen. Das sei Lebensqualität, die er brauche.

So sieht es auch Leidensgenosse Marcel Godin, der in der Nidaugasse in Biel Tulpen gekauft hat, die er gleich seiner Freundin bringt. Auch er leidet unter Diabetes. Auch er will die Gelegenheit noch nutzen, um Frischluft zu schnuppert. «Ich bleibe dann zuhause, wenn ich muss», sagt der 66-Jährige. Er kenne Leute, die ihm den Einkauf abnehmen würden. Weiss auch, dass er sich notfalls bei einer Facebookgruppe melden könnte. Die Gruppe «Gern gscheh - service! - Biel/Bienne hilft/aide» bietet Nachbarschaftshilfe. Rund 1300 Mitglieder sind bereit, Einkäufe für Risikogruppen zu übernehmen. Auch für den 66-jährigen Diabetiker. Aber Marcel Godin tut es lieber selbst. «Ich möchte mir ein Stück Normalität erhalten.»

Ausgangssperre in Debatte

Möglich, dass Marcel Godin die Hilfe bald annehmen muss. Der Kanton Uri hat gestern eine Ausgangssperre für Menschen über 65 beschlossen. Nur Arztbesuche und Beisetzungen im engen Familienkreis sind davon ausgenommen. Der Kanton geht voran, der Bund könnte folgen. Sollten die Empfehlungen des Bundesrates weiterhin vernachlässigt werden, könnte eine landesweite Ausgangssperre folgen. Die Ausbreitung des Coronavirus verlief in den letzten Tagen gewohnt rasant.

Es sind aber nicht nur die unbelehrbaren Senioren, die dazu beigetragen haben. Der Ungehorsam verteilt sich ausgewogen über alle Bevölkerungsgruppen. Vor dem Restaurant Palace sitzt ein Familienvater mit sechs Kindern. «Da sie keine Schule haben, müssen sie draussen spielen», sagt er. Dass der Bundesrat die Bevölkerung zum Hausarrest aufgefordert hat, habe er nicht mitbekommen.

Auf einem Kinderspielplatz am Strandboden spielt ein Junge alleine mit Sand. «Wir sind erst gekommen, als alle anderen Kinder schon weg waren», betont seine Mutter. Ganz auf den Spielplatz zu verzichten, wäre in ihren Augen unsinnig. Sie und ihr Mann gehen beide noch arbeiten, da sei die Möglichkeit höher, das Virus zu verbreiten. Hier im Park achte sie darauf, dass sie niemandem zu nahe kommt. Zuhause wäscht sie die Hände. Sie wäge selbst ab, wie hoch das Risiko ist, sich anzustecken. Sie bleibe gelassen, «man muss sich doch erst an die Veränderung gewöhnen», sagt die Mutter.

Noch lassen die Empfehlungen des Bundes Spielraum für eigene Interpretationen. «Bleiben Sie zu Hause, es sei denn, Sie müssen Lebensmittel einkaufen», lässt die Landesregierung über das schweizerische Radio und Fernsehen verlauten. Für viele ein Grund, bedenkenlos das Haus zu verlassen. Noch gibt es beim Bäcker Gipfeli, die man jeden Tag frisch kaufen muss. Mit ein Grund, das Haus zu verlassen.

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