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Coronavirus

«Diesen Krisenmodus kann man nicht ewig durchhalten»

Julia Walser muss sich täglich bis zu 20-mal umziehen und hat kaum noch Zeit für Essenspausen. Der Ausnahmezustand im Spitalzentrum Biel ist für die Pflegeexpertin belastend – aber auch spannend.

Julia Walser trennt vor dem Notfall des Spitalzentrums normale Notfälle von möglichen Coronavirus-Patienten. Matthias Käser

von Carmen Stalder

Zwei Pflegefachfrauen mit Schutzmasken stehen vor dem Notfall des Spitalzentrums Biel. Sie sprechen mit einer erschöpft aussehenden Frau, die befürchtet, sich mit dem neuen Coronavirus angesteckt zu haben. Nach einem kurzen Wortwechsel bitten sie die Frau hinein. Die sogenannte Triage zwischen normalen Notfällen und möglichen Coronavirus-Patienten findet draussen statt. Wer wegen des Virus da ist und Symptome aufweist, wird umgehend in eine spezielle Koje gebracht – isoliert von allen anderen Personen auf dem Notfall.

Julia Walser hat in den vergangenen Tagen praktisch ihre ganze Arbeitszeit mit der Triage verbracht. Jetzt hat sie Feierabend – und Zeit, von ihren Erfahrungen zu erzählen. Das tut sie in energischen, klaren Sätzen. Von allfälliger Müdigkeit ist ihr nichts anzumerken. Die 29-Jährige ist seit ihrer Lehre beim Spitalzentrum angestellt. Von der Fachangestellten Gesundheit hat sie sich bis zur Pflegeexpertin weitergebildet: Sie hat einen Masterabschluss und widmet sich unter anderem der Qualitätssicherung, der Erstellung von Konzepten und der Übersetzung der Pflegeforschung in den klinischen Arbeitsalltag. Derzeit dreht sich dieser aber fast nur noch um das Coronavirus.


Aufwendiges Prozedere

Kommt jemand in einem schlechten Zustand im Spital an, wird er ohne Umwege in den Notfall geschickt. Handelt es sich um eine Person mit Vorerkrankungen, bei der jedoch erst leichte Symptome erkennbar sind – beispielsweise Husten, Fieber oder Atembeschwerden –, holt Julia Walser die Person nach telefonischer Voranmeldung draussen ab, übergibt ihr eine Schutzmaske und bringt sie in eine isolierte Koje. Dort nimmt sie die Personalien auf, misst den Puls, die Temperatur und den Blutdruck. Erhärtet sich der Verdacht, kommt ein Arzt hinzu, der einen Abstrich vornimmt.

Bis das Testresultat vorliegt, das in einem externen Labor gemacht wird, vergehen maximal 36 Stunden. Je nach Gesundheitszustand wird die Person nach Hause in Quarantäne geschickt oder gleich im Spital behalten. Die Untersuchung ist eine kurze Sache und dauert nicht mehr als eine halbe Stunde. Doch für Julia Walser ist das Ganze ein aufwendiges Prozedere.

Das Personal betritt die Koje nicht ohne Schutzkleidung. Dazu gehören eine chirurgische Maske, eine Brille, ein plastifizierter Schutzmantel und unsterile Handschuhe. «Auf die Patienten kann diese Aufmachung verunsichernd wirken», sagt Julia Walser. Doch eine Ansteckung zwischen Patienten und Pflegepersonal soll unter allen Umständen vermieden werden. Bei jedem neuen Patienten muss Walser die Kleidung komplett austauschen. Und auch wenn sie die Koje kurz verlässt und wieder betritt, heisst es: alles umziehen.

Mit der Schutzkleidung fühle sich sehr gut geschützt und mache sich keine Sorgen, nahe an mögliche Corona-Infizierte zu kommen, sagt die Pflegeexpertin. Doch die Ausrüstung bringt einige Einschränkungen mit sich. Unter dem Mantel wird es sehr schnell sehr warm. «Das ist, wie wenn man einen Abfallsack tragen würde. Man ist danach ‹bachnass›.» Die Maske hinterlässt schmerzhafte Druckstellen im Gesicht. Ausserdem trocknet sie Nase und Mund aus. Und sitzt die Brille nicht exakt am richtigen Ort, beschlägt sie.


Den Humor nicht verloren

Richtig herausfordernd wird es beim Ausziehen der Schutzkleidung: Weil sie kontaminiert sein könnte, muss jeder Handgriff sitzen. Die Abfolge rattert Julia Walser wie im Schlaf herunter: Handschuhe weg, Hände desinfizieren. Mantel abstreifen, Hände desinfizieren. Isolationszimmer verlassen, Hände desinfizieren. Brille in einen Container werfen, Hände desinfizieren. Maske in den Abfalleimer werfen, Hände desinfizieren. «Ja, ich spüre es langsam an den Händen», sagt sie lachend. Ihren Humor hat sie trotz allem nicht verloren.

An manchen Tagen muss sie nur vier Patienten begutachten. An anderen kommen sie im Halbstundentakt an. Für Julia Walser heisst das: 15 bis 20 Mal umziehen, keine Zeit fürs Essen, nur eine hastig eingeschobene Toilettenpause. «Wir arbeiten alle deutlich mehr als sonst. Diesen Krisenmodus mag man eine Zeit lang durchhalten, aber ewig geht das nicht.»

Anstrengend sind für sie und ihr Team nicht nur die langen Tage. Auch die neuen Abläufe und vielen offenen Fragen erschweren den Alltag. Bei jedem Arbeitsschritt muss sie überlegen, was sie alles desinfizieren muss. Als es darum ging, ein Zimmer für Coronavirus-Patienten vorzubereiten, fehlten plötzlich 24 geschlossene Abfalleimer. Normalerweise arbeite die Spitalhygiene ein halbes Jahr an einem neuen Hygienekonzept. «Jetzt haben wir es in den letzten drei Wochen sicher zehn Mal angepasst.»


Den Grosskindern erzählen

Niemand in der Schweiz und niemand im Spitalzentrum hat je zuvor eine solche Pandemie miterlebt. Auf dem Papier gibt es zwar Konzepte dafür, doch in der Wirklichkeit sehe vieles anders aus, erzählt Walser. «Jeden Tag tauchen neue Fragen auf. An die Pflegenden wird ein sehr hoher Anspruch gestellt.» Die junge Frau räumt ein, dass die Situation nicht nur belastend sei. «Aus beruflicher Sicht ist es natürlich spannend, den Prozess hautnah mitzuerleben.» Der Kampf gegen das Coronavirus werde in die Geschichte eingehen – und sie werde wohl noch ihren Grosskindern davon erzählen.

Doch bevor es soweit ist, gilt es für Walser, weiterzukämpfen. Und das wird wohl noch eine Weile dauern, ist Julia Walser überzeugt. «Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir derzeit erst die Spitze des Eisbergs sehen.» Sie erwarte noch sehr viel mehr kranke Menschen – und befürchtet, dass auch Pflegepersonal ausfallen wird. «Das macht mir Sorgen», sagt sie. Im Spitalzentrum Biel wappnet man sich derzeit für einen grösseren Ansturm (siehe auch Samstagsinterview mit Spitaldirektor Kristian Schneider). So wird etwa Personal auf andere Abteilungen umverteilt, was von allen Beteiligten viel Flexibilität verlangt.

Trotz allem beschreibt Julia Walser die Stimmung unter dem Pflegepersonal als gut. Ihre Kolleginnen und Kollegen seien motiviert, der Krise entgegenzutreten. Sie würden alle einen grossen Effort leisten, um auf dem aktuellen Wissensstand zu bleiben. «Die Situation schweisst unser Team zusammen. Und auch all die Zeichen der Anerkennung, die wir von der Bevölkerung erhalten, tun gut.»

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Info: Wer befürchtet, sich mit dem Coronavirus angesteckt zu haben, soll immer als erstes telefonisch die Hausärztin, den Hausarzt oder die BAG-Infoline (058 463 00 00) kontaktieren und nicht direkt zum Arzt oder ins Spital gehen. Das Spitalzentrum Biel führt keine Corona-Tests durch bei Personen ohne Symptome.

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