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Nachruf

Eigenwillig, mutig, unkonventionell

Esther Leist war eine aussergewöhnliche Frau mit grosser Ausstrahlung und einem vielfältigen künstlerischen Werk. Nun ist sie 
93-jährig verstorben.

Esther Leist mit einem von ihr illustrierten Kinderbuch, das sie in ihrem eigenen Verlag veröffentlichte - den sie im Alter von 86 Jahren gründete. Bild: Peter Samuel Jaggi/a

Esther Leist kam 1926 zur Welt. Zu Beginn aufgewachsen in Berlin als älteres von zwei Kindern der Malerin Sonja Falk-Stein und des Schweizer Ingenieurs Theodor Stein, musste sie 1935 mit der Familie vor der Gestapo in die Schweiz flüchten, weil die Eltern politische Flüchtlinge vor den Nazis versteckt hatten. Die Schulen besuchte sie in Bern, erlebte Ausgrenzung und Einsamkeit wegen ihrer Sprache, ihres Aussehens, ihrer Kleidung, aber auch weil ihre Mutter Künstlerin und eine unkonventionelle selbstständige Frau war, die Eltern sich später scheiden liessen – kurz, weil sie nicht in einer traditionellen bürgerlichen Familie aufwuchs. Ausgrenzung, Einsamkeit, Angst, Suchen nach Wärme und Freundschaft sind Themen, die später in ihren Kinderbüchern immer wieder vorkommen.

Erst im Freien Gymnasium, später in der Kunstgewerbeschule, die sie mit dem Zeichenlehrerdiplom abschloss und wo sie auch ihren Mann, Jörg Leist, kennen lernte, konnte sie ihre Begabungen einbringen, wurde gefördert und durfte sie selbst sein, eigenwillig, mutig, unkonventionell.

Im Zentrum ihres Lebens standen immer das Malen, Zeichnen und Gestalten. Generationen von Schülerinnen und Schülern der Kindermalschule in Biel und Schülerinnen sowie Kolleginnen und Kollegen der damaligen Neuen Mädchenschule in Bern und des Staatlichen Seminars Biel haben sie als anregende, kreative, witzige und feinfühlige Lehrperson und Kollegin erlebt. Heinz Wyss, ehemaliger Rektor des Seminars, schreibt diesbezüglich: «Unvergesslich ihre genuinen, originellen Arbeiten, ihre Projekte, die das Bildnerische im Verbund mit Tanz, Pantomime, dichterischen Texten zum Gesamtkunstwerk haben werden lassen.»

Sie bildete sich weiter in Paris, Le Havre und Amsterdam, arbeitete mit verschiedenen Techniken und schuf ein reiches künstlerisches Werk: Auftragsarbeiten vom Bühnenbild über Wandbilder in Schulhäusern bis hin zu Arbeiten für die Zeitschrift «Hortulus», Buchillustrationen unter anderem zum Lesebuch für das erste Schuljahr «Du bist dran» (1968) oder zum Buch «Tierpark Dählhölzli» (1991), um nur einige zu nennen. Parallel dazu entstand ein eigenständiges malerisches Werk in einem unverwechselbaren kühl distanzierten surrealistischen Stil, das in Gruppen- und Einzelausstellungen zu sehen war.

Seit 1961 lebte das Künstlerpaar Esther und Jörg Leist in einem ehemaligen Bauernhaus in Jens, wo die beiden neben ihrer künstlerischen Arbeit und der Lehrtätigkeit die verschiedensten Tiere hielten, Hunde, Hühner, Enten, Gänse, Ziegen, Esel – einmal gehörte sogar ein Lama dazu. Esther Leist liebte Tiere, auch die weniger beliebten wie Krähen und Mäuse, die sie immer wieder in Bildern und Illustrationen darstellte. Nicht zu vergessen die Bären: ihre Teddybären-Sammlung war legendär.

Das Geschichtenerzählen gehörte zu den wichtigsten Kindheitserinnerungen. Nach dem Schlaganfall ihres Mannes 1982 liess sie sich pensionieren, um ihn pflegen zu können, und begann Kinderbücher selber zu schreiben und zu illustrieren. Die Bücher wurden von den Kinderbuch-Verlagen zurückgeschickt mit dem Vermerk «Passt nicht in unser Programm».

Nach dem Tod ihres Mannes 2010 begann für sie eine Zeit intensivster künstlerischer Arbeit. Frei von Verpflichtungen, voller Energie und Schaffenskraft textete und illustrierte sie weiter ihre Bilderbücher, gründete 2012 mit 86 Jahren den Foglietto-Verlag, in welchem 17 Bücher erschienen sind, Bücher voller Phantasie und Poesie, ohne direkten Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Themen, ohne Belehrung. Sie arbeitete pausenlos, ja besessen, mit grösster Genauigkeit und Disziplin, sofern es die zunehmend prekäre Gesundheit erlaubte, und fand immer noch Zeit, mit andern in verschiedenen Formationen zu musizieren, Volksmusik aus der Schweiz, Irland, Skandinavien, wie sie es schon viele Jahre zuvor zusammen mit ihrem Mann gepflegt hatte. Sie spielte verschiedene Flöten und Streichpsalter in den Formationen Ziberli-Musig, Ziberlettes, Jäisser Striich- und Zupfmusig.

Sie schaute immer nach vorn, konnte Veränderungen positiv umsetzen, hatte Schalk, Humor, war aufmerksam und liebenswürdig und freute sich an kleinsten Erlebnissen mit leuchtenden Augen und einem Strahlen im Gesicht. Lilly Spring

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