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Biel

Ein Knopf im Ohr gibt den Takt vor

Das Zürcher Slide Ensemble wagt ein Experiment: Musiker und Komponistinnen erarbeiteten gemeinsam Stücke für Improvisation. Samstags spielen sie diese in Biel zum ersten Mal.

Das Slide Ensemble sind Diego Kohn, Gemma Galeano Ballestar, Ferran Gorrea i Muñoz und Marina Mello Andrade (von links).  ZVG
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Hannah Frei
 
Man nehme zwei Saxofone, eine Harfe, eine Bratsche, vier Musikerinnen und vier Komponisten, führe sie in einen Raum, lasse sie wirken, aufeinander wirken, und stelle die vier Musizierenden danach auf die Bühne, um zu improvisieren. Wie das wohl klingt? Das können nicht einmal die Musikerinnen und Musiker vom Slide Ensemble vorhersehen. Dabei haben sie doch genau das getan. Und genau das zeigen sie am Samstag in der Bieler Voirie zum ersten Mal, bevor sie damit auch in Zürich, Locarno und Bern auftreten.
 
Doch mit was überhaupt? Es ist improvisierte Musik, komponiert von vier unterschiedlichen Komponistinnen und Musikern aus der Schweiz: Katharina Weber, Christian Wolfarth, Mathias Steinauer und Annette Schmucki. Doch egal, wie sehr sich das Publikum anstrengen wird, es wird wohl nie ganz verstehen, was alles hinter diesen Improvisationen steckt. Das müssen sie auch nicht, sagt Diego Kohn, der künstlerische Leiter des Slide Ensemble. «Es gibt Menschen, die wollen am liebsten dort spazieren gehen, wo sie genau wissen, was auf sie zukommt. Wir hingegen wollen den Dschungel, das Abenteuer.»
 
Das muss nicht anstrengend sein
Dschungel klingt erst einmal anstrengend. Nach gefährlichen Tieren, nach für Mitteleuropäerinnen viel zu feuchte und warme Luft und nach der Gefahr, sich zu verirren. Aber anstrengend müsse das nicht sein, sagt die Komponistin und Musikerin Annette Schmucki. «Ich sage den Zuhörerinnen und Zuhörern jeweils: Sehe es als Abenteuer, auf das du dich einlassen willst oder nicht.» Das verlange auch keine absolute Präsenz. Ein wacher Geist reiche aus. Die improvisierte Musik sei offen, schreibe niemandem vor, was man fühlen oder denken soll. «Sie ist viel weniger manipulativ. Das ist für mich ein sehr wichtiger Aspekt», sagt sie. Und sie gehöre ohnehin nicht mehr zu denjenigen, die daheim im Stübchen mit einem Glas Rotwein in der Hand Seite um Seite füllen. Sie will gemeinsam etwas erschaffen.
 
Schmucki verwandelt Text in Klang. Manchmal tut sie das so lange, bis man ihn gar nicht mehr hört. So auch beim Projekt Creaziun. Zu Beginn verlangte sie von den vier Musikerinnen und Musikern ein Wort. Daraus wurde ein Text. Den Text lasen die Musikerinnen und Musiker vor, nahmen das auf, hörten es sich immer und immer wieder an und liessen sich beim Improvisieren davon inspirieren.
Der Text dient aber nicht primär dem Ausdruck von Emotionen. Vielmehr gebe er den Takt vor, den für das klassisch hörende Ohr unregelmässigen Takt. «Ich gliedere mit gesprochener Sprache die Zeit», sagt Schmucki. Daraus geworden ist also eine Audio-Partitur, welche die Musizierenden auf der Bühne hören. Sie haben einen Knopf im Ohr. Alle hören denselben Text, gesprochen von und zu sich selbst. Er gibt ihnen den Rhythmus vor, einen Rahmen für die Improvisation. Das Publikum hört den Text nicht.
 
Aber halt: Was davon nimmt denn das Publikum überhaupt wahr? Spürt man, dass dem Stück eine Audio-Partitur zugrunde liegt? «Ich glaube, die Musik vermittelt eine andere Art von Ausdruck», sagt Schmucki. Um das zu überprüfen, müsse man wohl zwei ähnliche Stücke miteinander vergleichen, die unterschiedlich notiert worden sind. Das habe sie bisher nicht getan. Schmucki erwähnt das Streichquartett des italienischen Komponisten Luigi Nono. In diesem setzte er jeweils kurze Zitate über die Noten, welche die Musikerinnen und Musiker beim Spielen gelesen haben. Das Publikum bekam davon nichts mit. «Es wäre utopisch, zu sagen, dass das Publikum spürt, was für ein Zitat über der gespielten Passage steht», sagt Schmucki. «Aber es klingt auf jeden Fall anders, als wenn da nichts stehen würde.»
 
Bei einer offenen Bühne getroffen
Das setzen nun die vier Musikerinnen und Musiker des Slide Ensembles um: Nebst Diego Kohn sind das Gemma Galeano Ballestar, Ferran Gorrea i Muñoz und Marina Mello Andrade. Sie sind Profimusikerinnen und -musiker, kennen die grossen Bühnen, das Orchesterleben. Sie kommen aus Spanien, Argentinien und Brasilien, wohnen in Zürich, lernten sich dort vor etwas mehr als drei Jahren bei der offenen Bühne Zürich für Improvisation kennen. Sie trafen sich wieder und wieder, und schlossen sich schliesslich zusammen. Nicht aufgrund der Instrumente, sagt Kohn, sondern aufgrund der Personen. Das habe harmoniert.
 
Obwohl: Was die vier da zusammen machen, klingt erst einmal nicht nach Harmonie. Oder zumindest nicht nach dem, was das klassisch geschulte Ohr als Harmonie bezeichnet. Das mache nichts, findet Kohn. «Musik muss nicht immer angenehm sein. Manchmal darf sie auch provokativ oder herausfordernd sein.»
 
Dieses fremd Anmutende ist, was Harfenistin Marina Mello Andrade an der Improvisation gefällt. Sie ist im Klassischen daheim. Dort, wo richtig und falsch immer und sofort unterschieden werden können. Bei der Improvisation sei das anders. «Da stellt sich immer die Frage: Was ist eigentlich falsch?», sagt sie. Die Antwort sei jedes Mal eine andere, je nach Zusammensetzung oder Tagesform. Und wenn es nicht passt, liege es oft am Zusammenspiel, nicht an einem einzelnen Ton oder einer Melodie.
Andrade hatte bei diesem Projekt so einige erste Male: Zum ersten Mal war sie Co-Komponistin, spürte keine Hierarchie zwischen Musikerin und Komponist, hörte ihre Stimme auf Deutsch immer und immer wieder, spielte zum ersten Mal nach einer Audio-Partitur. «Das war für mich eine interessante Auseinandersetzung mit mir selbst», sagt sie.
 
Darauf zielt das Stück von Schmucki besonders ab. «Am Anfang waren da die Worte, das ganz Eigene und Nahe. Daraus ist etwas ziemlich Abstraktes entstanden, etwas Flüchtiges.» Und doch klinge es manchmal so, als würden die vier Instrumente perfekt ineinandergreifen und zu einem einzigen Instrument verschmelzen.
 
Was da am Samstag in der Voirie geboten wird, ist also eine Reise. Und zwar sowohl für die Künstlerinnen und Künstler, als auch für das Publikum, sagt Kohn. «Es ist eine Form, sich mit sich selbst, mit den Instrumenten und der Vorstellung von Musik, von einer Melodie und von Klang auseinanderzusetzen.»
 
Und weshalb macht die Zürcher Gruppe das ausgerechnet in Biel? Weil Schmucki hier und im Berner Jura lebt. Aber auch, weil das Projekt zur Stadt passe, sagt Kohn. Er kennt Biel wenig, aber er kennt Biels Musikszene. Hier gebe es Orte, in denen man diese Form von improvisierter Musik begehre. «In Biel haben wir eine Fläche gefunden, auf der wir landen können», sagt Kohn.
 
Info: Creaziun vom Slide Ensemble mit Gemma Galeano Ballestar, (Saxofon), Ferran Gorrea i Muñoz (Saxofon), Diego Kohn (Geige/Bratsche) und Marina Mello Andrade (Harfe), Samstag, 20 Uhr, La Voirie, Brunngasse 1, Biel. Weitere Infos unter www.lavoirie.ch, 

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