Sie sind hier

Abo

Wochenkommentar

Ein Paradebeispiel 
für den Einfluss 
der Sozialen Medien

Mehr als eine Woche ist es her, seit das Regionalgericht einen Bieler Lehrmeister zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilte, weil er zwei frühere Lehrtöchter sexuell missbraucht hatte. Es war vor mehr als einer Woche, als das BT titelte, der Lehrmeister erhalte vom Gericht eine letzte Chance.

Parzival Meister Redaktionsleiter, stv. Chefredaktor

Parzival Meister

Er, der wegen mehrfacher Ausnützung einer Notlage schuldig gesprochen wurde, erhielt vom Gericht eine letzte Chance, sich weiterhin um die Lehrlinge im Betrieb kümmern zu dürfen. Mehr als eine Woche ist seither vergangen. Und in dieser Woche wurde uns eindrücklich vor Augen geführt, welche Bedeutung die Sozialen Medien in unserem Leben einnehmen.

Obwohl im BT das Geschäft und der Lehrmeister anonymisiert wurden, verbreiteten sich die Namen des Verurteilten und seines Geschäfts wie ein Lauffeuer über die Sozialen Medien. Es gab kaum mehr ein anderes Gesprächsthema in der Stadt. Es folgten Boykottaufrufe. Der öffentliche Druck wuchs innert weniger Tage derart an, dass dem Geschäft kaum eine andere Wahl blieb, als zu handeln: Tom Rüfenacht gab sich auf seinem Facebook-Profil als der verurteilte Lehrmeister zu erkennen und gab sogleich bekannt, dass er sich aus der Geschäftsleitung und dem Verwaltungsrat der Bäckerei Chez Rüfi zurückzieht und künftig keine Lehrlinge mehr ausbildet.

BT-Redaktorin Sarah Zurbuchen kritisierte in ihrem Kommentar treffend, dass dieser Schritt nicht erst nach dem öffentlichen Druck hätte vollzogen werden müssen, sondern schon vor drei Jahren, als die Anzeige einging. Nicht erst jetzt, da der Firma ein Schaden droht. In den Jahren seit der Anzeige bis jetzt zum Urteil durfte Tom Rüfenacht weiterhin Lernende betreuen, wodurch weitere Übergriffe in Kauf genommen wurden.

Wer weiss, was geschehen wäre, ohne diese Welle der Entrüstung, die nach dem Urteil über die Bäckerei hereingebrochen ist? Hätte das Geschäft dieselben Konsequenzen gezogen? Wäre der Verurteilte heute noch als Ausbildner tätig? Vielleicht hätte das Geschäft auch ohne Druck die Konsequenzen gezogen. Vielleicht hätte sich über andere Kanäle Widerstand formiert. Sicher ist nur: Ohne Soziale Medien wäre der öffentliche Druck nie in so kurzer Zeit so gross geworden.

In diesem Sinne darf den Sozialen Medien etwas Positives abgewonnen werden. Sie haben ihren Teil dazu beigetragen, dass der Mann, wegen dessen Taten zwei junge Frauen noch heute leiden, keine Lernenden mehr betreuen wird.

Derselbe Fall aber offenbarte uns in ebenso eindrücklicher Weise die Abgründe der Sozialen Medien, beziehungsweise unser Verständnis dafür, was es bedeutet, auf diesen Plattformen unsere Emotionen unreflektiert rauszulassen. Es ist menschlich, dass solch abscheuliche Taten in uns Wut auslösen. Es ist ebenso menschlich, dass wir in einem Gespräch mit Freunden oder der Familie diesen Zorn in Worte fassen, die an dieser Stelle nicht abgedruckt werden dürften. Die Sozialen Medien werden als eine Art digitaler Stammtisch verstanden, an dem man ungefiltert sagen darf, was einem auf der Zunge brennt. Aber nein, das ist kein Stammtisch, an dem man sich mit vier, fünf Menschen unterhält, die man kennt. Was wir hier sagen, ist öffentlich und erst noch in schriftlicher Form festgehalten.

Es geht nicht darum, Mitleid für den Verurteilten zu erzeugen. Tom Rüfenacht hat sich dafür entschieden, sein Bekenntnis auf Facebook zu publizieren. Auf einer Plattform mit offener Kommentarfunktion, die eben bekannt dafür ist, dass hier die Wut der Menschen ungefiltert in die Öffentlichkeit strömt. Die teils sehr krassen Kommentare, die sich unter seiner mittlerweile gelöschten Mitteilung angehäuft haben, sind die Geister, die er selbst rief.

Aber all die Menschen, die hier wüste Beschimpfungen, Aufrufe zum Selbstmord oder gar Todesdrohungen ausgesprochen haben, scheinen nicht zu verstehen, dass das, was sie auf ihrem Handy in die Kommentarspalten tippen, nicht einfach als Nachricht bei einer bestimmten Person landet, sondern öffentlich ausgestellt ist. Es ist, als würden sie sich auf den Zentralplatz stellen und jedem, der vorbeiläuft, ins Gesicht schreien, was sie gerade aufregt. Und noch öfter wird offensichtlich vergessen, dass Beschimpfungen, Verleumdungen, üble Nachrede und Drohungen gemäss unserem Gesetz Straftaten sind, für die man verurteilt werden kann.

pmeister@bielertagblatt.ch

Nachrichten zu Biel »