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Samstagsinterview

«Eine eigene Literaturform entwickelt»

Vor 20 Jahren fanden in der Schweiz die ersten Poetry Slams statt. Und die Szene ist noch immer sehr lebendig. Auch dank der Bielerin Tina Messer.

Tina Messer sagt über ihr Projekt Slam@School: «Wir entstauben damit den Deutschunterricht.» Bild: Susanne Goldschmid

Interview: Parzival Meister

Tina Messer, damit wir richtig in das Thema eintauchen können: Können Sie mir auf die Schnelle einen Vierzeiler zu diesem Interviewtermin dichten?
(Lacht). Da muss ich Sie enttäuschen, ich bin der Theoretiker, der Vermittler, nicht der Dichter. Alle meinen, ich sei als Slam Poetin aktiv, aber ich tue das bewusst nicht. Ich organisiere den Rahmen, koordiniere, das ist eher mein Ding. Um jetzt zu freestylen, bräuchte ich zuerst ein Cüpli.
 

Freestyle kennt man aus dem Rap-Genre. Gibt es diese Disziplin auch im Poetry Slam?
Bei einem Poetry Slam ist alles erlaubt, es gibt keine Disziplinen. Ein Slam Poet, der aus dem Rap-Bereich kommt, kann seinen Auftritt durchaus freestyle gestalten.
 

Liefern sich die Poeten auch Diss-Battles, wie man das aus dem Rap kennt?
Bei der Dichterschlacht, die ich im Chessu veranstalte, tritt jeweils ein Poet gegen den anderen an und das Publikum entscheidet dann, wer weiterkommt. Der Wettbewerb steht bei dieser Turnierform mit K.-o-System klar im Vordergrund, wie etwa bei Rap-Battles. Und da kommt es durchaus vor, dass ein gewitzter Poet das Gesagte seines Gegners aufnimmt und ihn disst. Wobei: Früher war das öfters der Fall, früher war Poetry Slam allgemein etwas frecher.
 

Vor 20 Jahren fanden mit den Barak Slams in Bern Liebefeld die ersten Poetry Slams in der Schweiz statt. Eine Zeit, in der eben auch Rap-Battles angesagt waren. Wie gross war der Einfluss des Raps auf Poetry Slams?
Poetry Slam kommt aus den USA, genauer aus Chicago. Der Dichter und Bauarbeiter Marc Smith kreierte 1986 ein neues Bühnen-Format. Die Idee dahinter: Literatur von Laien für Laien. Klar, es war die Zeit, als Rap gerade in den Staaten sehr präsent war. Und da gibt es durchaus Parallelen, gerade in formaler Hinsicht zu den Rap-Battles.
 

Also sind Slam-Poeten eigentlich Rapper ohne Taktgefühl?
Im Gegenteil. Der Flow ist im Poetry Slam sehr wichtig und bei gereimter Textform tragend. In den USA ist das Ganze nach wie vor rhythmischer als im deutschsprachigen Raum. Hierzulande sind Poetry Slammer unterdessen oft im Bereich Kleinstkunst-Cabaret einzuordnen. Aber es gibt viele Ausnahmen.
 

Im Poetry Slam gibt es Rapper, Dichter und auch Komiker. Böse gesagt: Poetry Slam ist von allem ein wenig und nichts richtig.
Diese Einschätzung ist gemein. Begonnen hat es tatsächlich so, dass der Rapper auf der Bühne sein Ding durchzog, der Dichter seine Gedichte vortrug und der angehende Journalist seine kritische Meinung zu einem Thema kundtat. Doch mittlerweile hat sich aus diesen verschiedenen Sparten eine eigene Literaturform entwickelt: der Poetry Slam. Es geht dabei um die Oralität, also den mündlichen Vortrag. Wenn Sie dieses Interview schreiben werden, glaube ich kaum, dass Sie dabei sprechen. Ein Slammer fokussiert beim Schreiben den Textklang. Er schreibt für die Bühne, hat die Performance im Fokus. Das ist eine eigene Form der Textverarbeitung.
 

In welchem Verhältnis stehen Performance und Inhalt zueinander? Was ist wichtiger?
Fairerweise muss ich sagen: fifty-fifty.
 

Bei einem Poetry Slam gewinnt, wer das Publikum besser für sich begeistern kann. Ist da die Performance nicht doch wichtiger?
Es gibt sehr starke Poeten, die ihre Worte ohne auffällige Performance vortragen. Auch damit kann man das Publikum erreichen.
 

Sie organisieren im November den grössten europäischen Poetry Slam des Jahres. Das Finale findet im Hallenstadion statt, über 4000 Leute werden erwartet. Ist es nicht einfacher, eine so grosse Masse mit Schenkelklopfern als mit Tiefgründigem abzuholen?
Das könnte man meinen, ja. Aber ich wurde schon oft vom Gegenteil überzeugt. Zum Beispiel in Bielefeld in einer Halle mit 2500 Zuschauern. Stehpublikum wohlgemerkt. Wenn da einer auf der Bühne steht, der nicht liefert, wird es schnell unruhig in der Halle. Aber dabei handelte es sich um das Finale der deutschsprachigen Poetry Slam Meisterschaften 2013, also denselben Anlass, den wir in diesem Jahr in Zürich veranstalten. Das Niveau der Slammer ist hoch. Da gab es Poeten, die überhaupt nichts Lustiges vorgetragen haben und während ihrem Auftritt herrschte absolute Stille in der Halle. Das ist echt krass.
 

Aber wer hat die besten Chancen auf den Sieg: Der Komiker oder der Dichter?
Wenn du noch nicht bekannt bist, ist es einfacher, wenn du lustig bist. Allerdings werden flache Sprüche irgendwann langweilig, dem Publikum gefällt Tiefe. Ich beobachte oft, dass die lustigen Slammer zwar weit kommen, das Battle gewinnt dann aber doch einer mit einem ernsten Text und starker Performance. Hazel Brugger zum Beispiel feiert als Stand-up-Comedian grosse Erfolge, hat die deutschsprachigen Meisterschaften in Poetry Slam aber nie gewonnen. Schriftsteller Gabriel Vetter hingegen schon – und das mit einem Mundart-Text «Der Conny ihr Pony – Hü! Hü! Hü! Pony, hü!» und krasser Performance in München.
 

Wie viel Zeit stecken Sie in die Organisation der deutschsprachigen Poetry Slam Meisterschaften, den Slam 2018?
Im letzten Jahr habe ich ehrenamtlich 400 Stunden investiert. Das war aber noch wenig. Jetzt kommt erst die intensive Zeit.
 

Alles Ehrenamtlich?
Grösstenteils, ja. Projektleitung und Organisation sind natürlich budgetiert, werden aber zuletzt bezahlt. Falls etwas übrig bleibt, zahlen wird uns eine Entschädigung aus.
 

Sollte es nicht möglich sein, einen solchen Mega-Event gewinnbringend zu organisieren?
Von den Slammern erhält zwar niemand eine Gage, aber Kost und Logis für mehrere 100 Teilnehmer in Zürich bereit zu stellen, verlangt schon ein grosses Budget. Wir bespielen 7 Locations rund um die Langstrasse, eine Eröffnungsgala im Schauspielhaus, der Finale in der Kategorie Team im Volkshaus und das Einzelfinale im Hallenstadion – das kostet. Und Sponsoren für ein einmaliges Festival zu verpflichten, ist kein leichtes Unterfangen. Beim Slam 2018 geht es uns nicht um einen finanziellen Gewinn, der Besucher und die «Slamily» sollen noch in zehn Jahren darüber sprechen.
 

Heute findet in Winterthur das Finale der Schweizermeisterschaften im Poetry Slam statt. Von welcher Stilrichtung erwartet einen wie viel? Was ist gerade angesagt in der Szene?
Wie gesagt, das kann man heute nicht mehr so einfach kategorisieren. Um an den Schweizermeisterschaften teilzunehmen, muss man eine gewisse Anzahl Slams absolviert haben. Viele, die hier antreten, sind alte Hasen im Geschäft und haben mit der Zeit einen ganz eigenen Stil entwickelt, halt Slam Poetry.
 

Man muss also Slam-Teilnahmen vorweisen, um teilnahmeberechtigt zu sein. Klingt fast, als wäre hier ein Verband dahinter.
Vom System her ist das tatsächlich so, aber offiziell sind wir nicht als Verband oder Verein organisiert. Die Szene ist überschaubar, man kennt sich untereinander und wir «Slam-Master», als die Veranstalter, tauschen uns regelmässig aus.
 

Und wie tauscht man sich in der Szene aus? Wo kann man sich über Slams informieren, wenn man neu dabei ist?
Social Media ist heute das wichtigste Instrument. Hier tauschen wir uns in teilweise öffentlichen Gruppen aktiv aus, hier kann man sich informieren. Wir führen zudem einen Online-Kalender mit geplanten Veranstaltungen, um sich nicht in die Quere zu kommen oder aber Slam-Touren für ausländische Künstler zu planen. Wir sind heute ziemlich gut organisiert, das war nicht immer so.
 

Unter den Veranstaltern kennt man sich. Wie sieht das beim Publikum aus: Trifft man da immer dieselben Gesichter, egal ob der Slam in Biel oder Bern stattfindet?
Es gibt schon Leute, die von Slam zu Slam reisen. Aber das ist eher selten der Fall.
 

Sie können also die breite Masse ansprechen?
Ja, auf jeden Fall. Letzte Woche haben wir den ersten Kreuz-Slam in Nidau durchgeführt. Ich dachte, da kämen viele Leute, die wir sonst im Chessu an der Dichterschlacht antreffen. Aber das war überhaupt nicht so. Das Publikum war enorm durchmischt, von Jung bis Alt, und darunter viele, die ich hier in Biel noch an keiner Spoken-Word-Veranstaltung gesehen habe. Wir sind deshalb massentauglich, weil es an einem Abend für jeden Geschmack etwas dabei hat.
 

Erinnern Sie sich an Ihren ersten Slam?
Ja, das war an der Kunstschule in Zürich.
 

Sie sassen im Publikum?
Nein, wir haben die Abschlussveranstaltung organisiert und dazu zwei Poeten eingeladen. Das war im Jahr 2005, Slam Poetry war gerade im Aufkommen. Ich mochte Literatur zwar schon immer, aber interessierte mich weniger für Lesungen. Doch diese Vorträge haben mich in den Bann gezogen. Ich dachte: wow, voll krass. Ich war damals als Filmschaffende aktiv und fragte den Performer, ob ich seinen Text verfilmen könnte. Er hat zugesagt und bei diesem Projekt kam in mir dann der Gedanke auf:  Das könnte man doch auch in Biel veranstalten. 2006 dann habe ich den ersten Slam im Chessu organisiert.
 

Und selbst wollten Sie nie auf die Bühne?
Nein, jedenfalls nicht bei einem Poetry Slam. Ich stand früher öfters als Sängerin auf der Bühne. Das gefiel mir, aber ich bin nicht so der Wettkampf-Typ. Ich finde Slams super als Zuschauerin, aber ich habe kein Interesse daran, mich zu batteln. Für viele Slammer ist aber genau dieses Adrenalin wichtig. Für sie ist das wie ein Sport. Und natürlich ein Sprungbrett für ihre Karriere.
 

Man kann von Slam-Gagen leben?
Nein, an Slams bezahlen wir keine grossen Gage. Aber die, die Erfolg haben, sind dann mit einem Solo-Programm unterwegs, sei dies als Comedian, Musiker oder Lyriker. Poetry Slam ist deshalb ein gutes Sprungbrett, weil die Szene im deutschsprachigen Raum extrem ausgeprägt ist. Einem guten Slammer stehen auf einen Schlag 2000 Bühnen offen. Er kann rumreisen - Kost, Logis und Fahrtkosten sind bezahlt - und kann sein Programm perfektionieren. Diese Vorteile haben schon viele erkannt. Zum Beispiel Pedro Lenz, Christoph Simon, Lara Stoll oder Laurin Buser, um nur vier zu nennen, die heute sehr erfolgreich unterwegs sind.
 

Zurück zu Ihrer Organisationstätigkeit: Vor 12 Jahren haben Sie mit der Dichteschlacht im Chessu begonnen. Den Anlass gibt es heute immer noch. Wie haben sich die Zuschauerzahlen entwickelt?
Die Slams waren von Anfang an gut besucht. Es war einfach der richtige Zeitpunkt damals. Die ausgeprägte Rap-Kultur hat uns in Biel bestimmt auch geholfen. Wir hatten regelmässig 300-400 Leute in den Chessu gelockt. Vor zirka fünf Jahren lag Poetry Slam voll im Trend, da hatten wir bis zu 600 Zuschauer. Mittlerweile hat es sich bei 400 Besuchern eingependelt, das ist ein guter Wert in der Schweiz. Nur die Rote Fabrik in Zürich hat höhere Zuschauerzahlen.
 

Wie sieht es bei den Artisten aus: Wächst die Auswahl?
Die Dichterschlacht im Chessu findet zwei Mal im Jahr statt; nächsten Samstag ist es wieder soweit. Da gehen einem die Artisten nicht aus, im Gegenteil. Ich habe eine lange Liste mit grossartigen Slammern, die ich gerne mal nach Biel einladen würde. Dann gibt es auch viele, die mittlerweile zu bekannt sind und keine Zeit mehr haben, an die Dichterschlacht zu kommen. Gabriel Vetter und Hazel Brugger zum Beispiel waren Slammer, die immer gerne nach Biel kamen. Hazel ist unterdessen mit ihrem Solo-Programm so erfolgreich, dass sie nicht mehr an Slams auftritt. Im Allgemeinen ist es aber so, dass schnell ein neues Talent nachrückt.
 

Sie haben 2012 das Projekt Slam@School lanciert. Heute vermitteln Sie im Kanton Bern jährlich in insgesamt 24 Klassen die Kunstform des Poetry Slams. Die Schüler messen sich untereinander und am Ende sogar an einem kantonalen Schul-Slam. Züchten Sie da den eigenen Nachwuchs heran?
Darüber haben wir oft gewitzelt. Aber in der Realität ist dies nicht der Fall. Die Kids werden «gluschtig», besuchen vielleicht Slams. Effektiv aktiv geblieben sind bisher nur zwei Ausnahmen. Es ist aber auch nicht der Fokus des Projekts, für Nachwuchs zu sorgen.
 

Sondern?
Unser Unterricht ist eine einzigartige, sprechsprachliche Förderung, die man sonst nicht im Lehrplan findet. Zudem bringen wir den Schülern kreatives Schreiben bei. Die Workshops finden während des Deutschunterrichts statt. Überschneidungen mit dem normalen Lehrplan gibt es bei der Sprachtheorie. Unser Vorgehen ist aber sehr spielerisch, Stichwort «Creative Writing» und die Schüler arbeiten auf ein konkretes Projekt hin. Wir entstauben damit den Deutschunterricht. Zudem arbeiten wir mit den Schülern an ihrer Persönlichkeit. Sie lernen, die Sprache als Ventil zu nutzen und erlernen eine angenehme Feedback-Kultur.
 

Wie ist die Reaktion der Schüler, wenn Sie ins Klassenzimmer kommen und sagen: Jetzt machen wir Poetry Slam?
Die Workshops beginnen mit einer einstündigen Show: Meine Kollegen, selbst aktive Slammer, tragen Texte vor. Und wir zeigen ihnen Videos. Ohne diese Einführung würde es nicht klappen. Doch dann werden die Schüler «gluschtig», schauen sich auf Youtube Slam-Videos an und beschäftigen sich mit dem Thema.
 

Und alle finden das cool?
Natürlich gibt es Schreibmuffel, oder solche, die einfach keinen Bock haben. Denen versuchen wir, die Workshop-Zeit so angenehm wie möglich zu machen. Wir suchen nach ihren Stärken. Wer sprachlich nicht so gewandt ist, mit dem arbeiten wir halt mehr an der Performance. Sie lernen, etwas vor anderen Menschen vorzutragen, frei zu reden, zu improvisieren. Bei einem Bewerbungsgespräch zum Beispiel kann das sehr hilfreich sein.
 

Ist es nicht einfach so, dass die Schüler alles lieber haben, als den normalen Deutschunterricht?
Klar, auch dieses Feedback gibt es. Es ist eine Illusion, zu glauben, man könne es allen recht machen. Aber der Grossteil der Schüler ist mit Feuer und Flamme dabei. Sie werden herausgefordert, können sich mit anderen messen. Und in jedem Workshop gibt es Überraschungen: Schüler, die sonst eher passiv sind, blühen auf. Weniger beliebte Schüler werden zu Schulhelden, weil sie auf der Bühne dermassen gut abliefern. Es ist immer extrem schön, so etwas zu beobachten.
 

Auf Abruf kreativ zu sein, ist nicht einfach. Wie helfen Sie den Schülern bei der Themenfindung?
Der wichtigste Tipp: Mach deine Augen auf. Geh durch die Welt und beobachte. Überall finden sich interessante Themen. Wenn man für einmal die Stöpsel aus den Ohren nimmt und nicht ständig auf sein Handy blickt, gibt es auf jeder Busfahrt viel zu entdecken.
 

Tina Messer, können Sie mir zum Schluss in wenigen Worten die Essenz des Poetry Slams erläutern?
(Überlegt) Das Persönliche, das Gelebte, das Direkte … das Vortragen direkt aus dem Herzen, das ist gelebte Literatur, das ist Poetry Slam.
 

Und wenn Sie nicht für uns dichten wollen: Wo kann ich diese Tage die Dichter live erleben?  
In Winterthur findet heute das Finale der Schweizermeisterschaften statt. Wer nicht so weit fahren will: Morgenabend organisiere ich im Le Singe das Rauschdichten mit Lisa Christ und nächsten Samstag steigt im Chessu die nächste Dichterschlacht mit hochkarätiger Besetzung.

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Zur Person

  • Tina Messer, Jahrgang 1985, geboren, aufgewachsen und wohnhaft in Biel mit Partner und zwei Kindern, 1- und 3-jährig
  • Nach dem Gymnasium gestalterische Ausbildung an der privaten Kunst- und Designschule F+F in Zürich. Danach als Filmschaffende angestellt. Später Studium an der Uni Basel in Kunstgeschichte und Deutsche Philologie.
  • Arbeitet heute als selbstständige Projektleiterin und Grafikerin im Kulturbereich. Dazu gehören das Veranstalten von Poetry Slams, Künstlervermittlung und Organisation von Slam Poetry Workshops in Schulen (aktuell 24 Klassen an 11 Schulen im Kanton Bern) pam

Link: www.spokenwordbiel.ch

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