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Eltern finden in Biel kaum noch Kinderärzte

Einen Kinderarzt zu finden, ist zur Glückssache geworden: Die Pädiater in der Stadt sind derart überlastet, dass sie fast keine neuen Kinder aufnehmen können. Eine Besserung liegt in weiter Ferne.

Eine regelmässige Kontrolle durch den Kinderarzt sorgt dafür, dass allfällige Entwicklungsprobleme frühzeitig erkannt werden. Keystone

von Carmen Stalder

Das Gedüdel der Warteschlaufe erklingt. «Zurzeit sind alle unsere Mitarbeiter besetzt. Bitte haben Sie Geduld», sagt eine Computerstimme. So oder ähnlich tönt es oftmals, wenn man in Biel versucht, eine Kinderarztpraxis anzurufen. Und es ist ein sinnbildliches Zeichen dafür, wie es um die Kinderärztinnen und Kinderärzte in der Stadt steht: Sie stehen unter Druck, sind von morgens bis abends ausgelastet und können kaum noch neue Kinder aufnehmen.

Diese Erfahrung hat kürzlich die Bielerin Daniela Baumgartner gemacht. Ihre drei Kinder, sieben und drei Jahre sowie vier Monate alt, gehen zur Kontrolle, fürs Impfen und wenn sie krank sind, in die Kinderarztpraxis Schwanenkolonie. Kürzlich jedoch hat Baumgartner erfahren, dass ihre bisherige Ärztin eine eigene Praxis in der Umgebung von Bern eröffnet und ab März 2020 nicht mehr in Biel arbeiten wird. Da sie kein Auto habe, sei sie jedoch darauf angewiesen, eine Ärztin oder einen Arzt in der Nähe zu haben.

«Ich habe den halben Morgen damit verbracht eine Pädiaterin oder auch einen Hausarzt zu finden, der jüngere Kinder behandelt», erzählt Baumgartner. Das Resultat: überall nur Absagen. «Alle bedauern die Situation, haben aber keinen Tipp, wohin wir uns wenden können», so Baumgartner. Im Moment wüssten sie und ihr Mann deshalb nicht, wohin sie ab dem nächsten Frühling mit ihren Kindern zum Arzt gehen sollen. «Wir möchten in Zukunft nicht in die Notfallaufnahme im Spital, die auch so schon überlastet ist.»


Die Nachfolge ist offen

Fabienne Schär von der Kinderarztpraxis Schwanenkolonie ist eben jene Pädiaterin, die ab nächstem Frühling nicht mehr in Biel praktizieren wird. Für sie ist es eine unangenehme Situation, ihre langjährigen Patientinnen und Patienten zurücklassen zu müssen, ohne eine klare Nachfolgelösung bieten zu können. Denn noch ist offen, wer auf Schär folgt. Kommt hinzu, dass in der Praxis an der Spitalstrasse, in der derzeit vier Kinderärzte tätig sind, eine Pädiaterin kurz vor der Pensionierung steht. Das Problem wird sich also zuspitzen.

Schon jetzt sei die Situation schwierig, sagt Schär. «Wir müssen täglich Kunden abweisen.» Seit mehreren Jahren nehme die Praxis kaum noch Zuzüger und Arzt-Wechsler auf, höchstens Neugeborene hätten ab und zu eine Chance, bei ihnen aufgenommen zu werden. Sie selbst habe vor sieben Jahren in der Praxis Schwanenkolonie angefangen – und nach gerade einmal zwei Monaten sei ihre gesamte Sprechstunde ausgebucht gewesen.

Die gleiche Situation präsentiert sich im Medizinischen Zentrum Biel (MZB) an der Unionsgasse, wo in der Gruppenpraxis für Kinder- und Jugendmedizin vier Pädiaterinnen und Pädiater tätig sind. «Wir könnten während 24 Stunden arbeiten», sagt Walter Koch. Der langjährige Bieler Kinderarzt ist Geschäftsführer des MZB. Seine Arbeitstage dauern zwölf Stunden, in dieser Zeit empfängt er rund 50 Kinder. «Es herrscht eine Notsituation», sagt er. «Man muss heute Glück haben, überhaupt noch einen Kinderarzt zu finden.»


Mit Schnupfen zum Arzt

Täglich klingeln die Telefone in der Gruppenpraxis zwischen 150 und 200 Mal. 20 bis 30 davon würden am gleichen Tag einen Termin erhalten, sagt Koch. Die restlichen Fälle könnten häufig am Telefon geklärt werden, denn neben medizinischen Praxisassistentinnen arbeiten hier auch fünf Pflegefachfrauen. «Durch ihre grosse medizinische Erfahrung können sie uns dank telefonischer Beratung den Rücken etwas freihalten», sagt Koch.

Doch in manchen Fällen verhindert die Sprachbarriere, dass die Mitarbeiter den Eltern Tipps für die Behandlung ihrer Kinder geben können. Oder sie bestehen schlicht darauf, die Tochter oder den Sohn vorbeizubringen – auch wenn es sich nur um einen einfachen Schnupfen handelt. «Die Ansprüche sind gestiegen. Medizin ist zu einem Konsumgut geworden», so Koch. Im MZB hätte es Kapazität für mindestens drei zusätzliche Kinderärzte. Nur seien diese kaum aufzutreiben: «Wir sind dauernd auf der Suche», sagt Koch.


«Der Beruf ist zu wenig attraktiv»

Der Kinderärztemangel ist ein schweizweites Problem. Die Ursachen dahinter sind vielseitig (siehe Nachgefragt). Fabienne Schär sagt, dass in Biel in den letzten Jahren einige eingesessene Kinderärzte pensioniert worden und zu wenig Neue nachgekommen seien. «Der Beruf ist schlicht zu wenig attraktiv», sagt sie. Zu einer hohen Arbeitsbelastung, langen Präsenzzeiten und einer grossen Verantwortung komme hinzu, dass Kinderärzte vergleichsweise wenig verdienen.

Für angehende Mediziner gibt es weitaus verlockendere Alternativen. So bringt eine Arbeit im Spital oft geregeltere Arbeitszeiten mit sich. Fabienne Schär wünscht sich dennoch, dass sich mehr Mediziner zu Kinderärzten ausbilden lassen – schliesslich sei es eine «wunderschöne Arbeit». Wenn der Beruf attraktiver gestaltet würde, könne man die Arbeit auf mehr Personen verteilen. «Und das würde wiederum zu besseren Arbeitszeiten führen», sagt sie.

Walter Koch glaubt, dass der Ärztemangel auch einem Paradigmenwechsel geschuldet ist. Junge Mediziner hätten eine andere Lebensphilosophie als seine Generation: Sie wollen Teilzeit arbeiten, legen eine längere Familienpause ein, nach der sie quasi wieder bei Null anfangen müssen oder wechseln nach ein paar Jahren den Beruf. Letztes Jahr wurden zwar an der Universität Bern 100 zusätzliche Medizin-Studienplätze geschaffen. Und auch in der Politik habe man das Problem erkannt und wolle die Hausarztmedizin fördern. Doch für Koch kommt das zu spät: «Die medizinische Versorgungslage wird sich in den nächsten Jahren dramatisch verschlechtern.»


Lange Wartezeiten auf dem Notfall

Wenn Familien für ihre Kinder keinen Arzt finden, ist eine Konsequenz davon, dass sie öfter und auch bei nicht schwerwiegenden Erkrankungen eine Notfallstation aufsuchen. Noch sei diese Situation auf der Notfallstation der Kinderklinik am Spitalzentrum Biel selten, sagt Rodo von Vigier, Chefarzt Pädiatrie. «Bisweilen sehen wir jedoch Feriengäste oder Kinder neu zugezogener Familien, die noch keine feste ärztliche Betreuung gefunden haben; gehäuft davon betroffen sind auch Familien mit Migrationshintergrund.»

Unabhängig davon habe die Anzahl der Konsultationen auf der Notfallstation der Kinderklinik während der letzten Jahre stark zugenommen, vor allem abends und nachts sowie an Wochenenden und Feiertagen. Diese Entwicklung habe deutliche Auswirkungen sowohl für die Patienten als auch für das Spitalpersonal: «Die nicht voraussehbare, stark fluktuierende Patientenzahl auf der Notfallstation der Kinderklinik führt oft zu langen Wartezeiten für die Patienten und zu Belastungssituationen für das Personal», sagt von Vigier. Um dieser Entwicklung gerecht zu werden und den Zugang zur medizinischen Versorgung für die gesamte Bevölkerung gleichermassen sicherzustellen, müsse die zukünftige Organisation der medizinischen Grund- und Notfallversorgung für Kinder und Jugendliche dringlich überdacht werden, ist der Chefarzt überzeugt.

Trotz aller Schwierigkeiten bleibt Walter Koch zuversichtlich, in nächster Zeit neue Kinderärzte zu finden. Für das MZB plant er eine Kooperation mit grösseren medizinischen Netzwerken. Die Chancen, neue Pädiater zu finden, sei damit grösser. «Die Zukunft der medizinischen Grundversorgung findet in medizinischen Zentren und Netzwerken statt», sagt er. Bis es soweit ist, bleibt es für Eltern in Biel eine Geduldsprobe, einen Pädiater für ihre Kinder zu finden.

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«Kurzfristig schlicht nicht lösbar»

Der Kinderarzt Stefan Roth weiss als Vorstandsmitglied des Vereins Berner Haus- und Kinderärzte um die prekäre Versorgungssituation im Kanton.

Stefan Roth, fehlt es im ganzen Kanton Bern an Kinderärzten?
Stefan Roth: In städtischen Gebieten ist die Situation besser; je ländlicher, desto weniger Kinderärzte hat es. Im Oberland ist es sehr schwierig, auch im Berner Jura und im Seeland ist die Versorgung spärlich. In Biel stellt sich den Ärzten ausserdem die Herausforderung der Zweisprachigkeit.

Dann ist es mittlerweile Glücksache, einen Kinderarzt zu finden?
Wenn man Pech hat und nicht in einem Rayon eines Kinderarztes wohnt, ist es schwierig, jemanden zu finden. Denn viele nehmen nur noch Patienten aus einem festgelegten Einzugsgebiet auf. So ist es zu einem Standortvorteil einer Gemeinde geworden, wenn sie über genügend Kinderärzte verfügt.

Warum gibt es diesen Mangel?
Es gibt einen Generationenwechsel: Junge Kinderärzte leben in Familienstrukturen, die nicht mehr so hohe Arbeitspensen erlauben. Die Prioritäten haben sich verschoben, die eigene Lebensplanung ist wichtiger geworden.

Hat auch die Arbeit an Attraktivität eingebüsst?
Die Bedürfnisse der Eltern haben massiv zugenommen. Sie haben viele Fragen, die Konsultationen dauern länger. Wenn ihr Kind krank ist, wollen sie nicht zuhause abwarten, sondern sofort einen Arzt konsultieren. Da oft beide Partner arbeiten, ist niemand zuhause, der sich um das Kind kümmern kann. Sie brauchen also ein Arztzeugnis, damit sie von ihrem Arbeitgeber freibekommen.

Gäbe es denn grundsätzlich genügend Kinderärzte?
Es wurden lange zu wenig Mediziner ausgebildet. Man hat von den gut ausgebildeten Kollegen aus Deutschland profitiert, aber auch dieser Pool trocknet aus. Es herrscht ein Ungleichgewicht bei den Entschädigungen: Die Pädiatrie ist nach der Psychiatrie und Kinderpsychiatrie das am drittschlechtesten bezahlte Fachgebiet – trotz aller politischen Bemühungen. Die Arbeit in der Grundversorgung sollte dringend attraktiver werden.

Gibt es bereits solche Bestrebungen?
Die Politik hat das Problem begriffen. Ich bin aber nicht überzeugt, ob ihnen die Dimension bewusst ist. Es gibt zwar mittlerweile mehr Studienplätze, doch es dauert mindestens zwölf Jahre, bis ein Medizinstudent in einer Praxis tätig ist. Zudem bedeuten mehr Studienplätze noch lange nicht mehr Haus- und Kinderärzte – jedenfalls nicht, solange die Rahmenbedingungen dieselben bleiben. Immerhin hat das Interesse an diesen Fachgebieten zugenommen.

Reicht das aus?
Die Massnahmen, die jetzt getroffen worden sind, fruchten erst in 10 bis 15 Jahren. In dieser Zeit wird sich der Ärztemangel weiter zuspitzen. Es ist ein Problem, das kurzfristig schlicht nicht lösbar ist.

Welche Konsequenzen bringt das mit sich?
Es führt dazu, dass Kinderärzte Patienten abweisen müssen. Manche Eltern machen sich dann auf die Suche nach Hausärzten, die ihre Kinder aufnehmen, doch auch von diesen gibt es immer weniger. Zunehmend werden sie also in Notfällen von öffentlichen Spitälern landen. Das führt auch dort zu Problemen, weil sie wegen Überlastung nicht mehr die optimale Versorgung bieten können. Eine Kollegin von mir hat aufgehört, als Kinderärztin zu arbeiten – weil ihr der Arbeitsdruck zu gross geworden ist. Das ist die denkbar schlechteste Konsequenz des Ärztemangels. Interview: cst

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