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Biel

Er hält nicht viel vom Klatschen via Stimmzettel

Kristian Schneider sieht für die Pflege dringenden Handlungsbedarf. Die Pflegeinitiative sei aber der falsche Weg, so der Direktor des Spitalzentrums Biel.

«Wenn wir die Pflege stärken wollen, müssen wir das Angebot des Gegenvorschlags annehmen, sagt Kristian Schneider. Mak/A
Interview: Carmen Stalder
 
Kristian Schneider, kürzlich haben Sie in einem Interview gesagt, dass der Pflegenotstand im Spitalzentrum Biel dramatisch sei, insbesondere beim spezialisierten Personal. Wieso lehnen Sie dann die Pflegeinitiative ab?
Kristian Schneider: Aufgrund der Pandemie haben immer mehr Personen den Pflegeberuf aufgegeben. Wir mussten bereits Einheiten verkleinern. Vor allem im Notfall mangelt es an spezialisierten Pflegekräften und in der Anästhesiepflege fehlen ebenfalls Leute. Dieses Problem besteht in allen Spitälern der Region und hat punktuell dazu geführt, dass die Spitäler keine zusätzlichen Patienten mehr aufnehmen konnten. Deshalb müssen wir jetzt etwas unternehmen. Die einzige Chance besteht darin, Leute auszubilden und parallel an den Rahmenbedingungen für die Pflegenden zu arbeiten.
 
Genau das will die Pflegeinitiative.
Aber wie kann ich die Arbeitsbedingungen verbessern, wenn mir die Hände und Köpfe fehlen? Die Bedingungen werden dann gut, wenn wir wieder genügend Leute auf den Abteilungen haben und die Arbeit gerechter verteilt ist.
 
Sie gehen davon aus, dass sich die Arbeitsbedingungen automatisch verbessern, sobald genügend Personal vorhanden ist?
Nehmen wir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Ein 24-Stunden-Betrieb wird nie zu 100 Prozent vereinbar sein mit der Familie. Wir können aber die Situation verbessern, etwa indem wir die Öffnungszeiten der hauseigenen Kita erweitern. Wir müssen auch daran arbeiten, dass unsere Arbeitspläne eine höhere Verlässlichkeit haben. Die Leute sollen sich auf die Erholungsphasen verlassen können. Zudem überprüfen wir, ob wir nicht zusätzliche flexible Freitage geben wollen.
 
Das sind ja alles gute Ideen – aber warum sind sie nicht längst umgesetzt?
Wir sind dran! Aktuell wird so getan, als ob die Pflege in der Schweiz eine Katastrophe wäre. Das ist despektierlich den Pflegenden gegenüber. Sie leisten jeden Tag Ausserordentliches. Natürlich, wir wissen seit Langem, dass wir in Sachen Fachkräftemangel in ein Problem hineinlaufen. Wir haben jetzt eine akute, wirklich schlimme Situation. Ich bin der Erste, der das einsieht, und ich war der Erste, der sich mit seinen Pflegenden an einen Tisch gesetzt hat. Der Verwaltungsratspräsident und ich wollten hören, was wir konkret machen können. Am nächsten Tag haben wir eine Taskforce ins Leben gerufen. Am übernächsten Tag ging der Auftrag an die Kita, die Öffnungszeiten zu verlängern. Seit dem 1. November vergüten wir alle Nacht- und Wochenendschichten besser. Früher haben wir nur den Ärzten Marktzulagen bezahlt, jetzt zahlen wir sie auch für die Pflegenden.
 
Sie sagen also, dass Sie schon jetzt freiwillig und ohne Pflegeinitiative die Arbeitsbedingungen verbessern?
Genau daran arbeiten wir – zusammen mit den Sozialpartnern. Geht es nach der Initiative, würde der Bundesrat Vorgaben für die ganze Schweiz machen. Glauben Sie tatsächlich, dass darin Maximalforderungen enthalten wären, etwa, was den Lohn angeht? Wenn wir einen nationalen Gesamtarbeitsvertrag machen, wird das an einigen Orten die Löhne drücken. Ich habe Angst, dass bei der Umsetzung der Initiative nichts Gescheites rauskommt und wir einfach Zeit verlieren. Alles, was in der Pflegeinitiative steht, ist wichtig. Aber es ist der falsche Weg. Wenn wir die Pflege jetzt stärken wollen, müssen wir das Angebot des indirekten Gegenvorschlags annehmen. Diese Milliarde von Bund und Kantonen für die Ausbildung hilft uns direkt.
 
Wieso sollte es mit dem Gegenvorschlag schneller vorwärtsgehen?
Die Kantone werden alles dafür tun, das Geld vom Bund schnellstmöglich zu übernehmen, sonst haben sie nichts. Welcher Kanton sagt schon Nein, wenn der Bund für die Ausbildung eine halbe Milliarde in Aussicht stellt?
 
Mit dem Gegenvorschlag wäre ja erst die Ausbildungsfrage gelöst.
Ich glaube, dass wir viel mehr, schneller, und effizienter etwas für die Pflege machen können, wenn der SBK (Schweizer Berufsverband für Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, der die Pflegeinitiative lanciert hat, Anm. d. Red.) als Sozialpartner mit den Leistungserbringern zusammen an einen Tisch sitzt und fragt: Was können wir machen, damit die Situation besser wird?
 
Doch es gibt keine Garantie, dass sich danach tatsächlich etwas verbessert.
Gibt es denn mit der Pflegeinitiative eine Garantie dafür, dass alles besser kommt? Von den Initianten wird suggeriert, dass die Welt mit der Initiative besser wird. Dabei wird die Welt besser, wenn wir Administration abbauen! Letztens habe ich ein Werbefoto einer Fachhochschule für Pflege gesehen. Darauf sind zwei Pflegende vor dem PC abgebildet. Die Kernbotschaft kann doch nicht sein, dass ich als Pflegender in Weiss vor dem PC sitze.
 
Was müsste sich am Berufsbild der Pflege ändern?
Die Pflegenden müssen viel dokumentieren und planen. Wir sollten sie freischaufeln, sodass sie mehr mit den Patientinnen und Patienten arbeiten, komplexe Situationen beurteilen, pflegen, behandeln und therapieren können. Mit der ganzen Digitalisierung und Dokumentation sind wir etwas weit von der Kernaufgabe abgedriftet.
 
Was können Sie als Spitaldirektor konkret tun?
Gemeinsam mit dem SBK, aber auch den Versicherungen und dem Bund müssen wir neue Wege finden, damit die Leute ihre Arbeit machen können. Es braucht auch inhaltliche Arbeit in den Institutionen: Ist die Pflege ein gleichberechtigter strukturierter Partner im Spital oder einfach eine ausführende Berufsgruppe? Man muss die Pflege in den Spitälern in eine starke Position bringen – so wie wir das in Biel mit der Berufung von gleich zwei Pflege-Direktorinnen getan haben. Zu meiner eigenen Überraschung macht das manchem Arzt heute immer noch Angst. Und man muss jetzt wirklich aufhören zu sagen, dass es so viele Komplikationen gebe. Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme der Welt.
 
Durch den Fachkräftemangel kommt es doch schon vermehrt zu Fehlern?
Wenn Sie weniger Zeit pro Patientin haben, sehen Sie natürlich weniger. Doch in den letzten zwei Jahren haben wir den Pflegeschlüssel sukzessive erhöht. Wir möchten gerne mehr Leute anstellen – aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Der Markt ist leer! Wir versuchen es nun auch mit Wiedereinstiegsprogrammen.
 
Noch einmal: Wie kann man das Personal behalten, wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen?
Ein Beispiel: Für die chirurgische Abteilung haben wir neue Pflegende gefunden. Damit sie sich in Ruhe einarbeiten können und nicht wieder abspringen, haben wir Patientenbetten geschlossen. Die Leute müssen sich im Alltag sicher fühlen, da haben wir vielleicht bisher zu wenig darauf geachtet.
 
Sorgen Sie sich, dass es aufgrund der Pflegeinitiative zu einer Kostenexplosion kommen könnte?
Die Initianten sagen: Wenn es mehr Pflegende hat, gibt es weniger Komplikationen und dadurch geringere Kosten. Ich sage Ihnen: Egal, woran wir im Gesundheitswesen bisher geschraubt haben – sei es ein Leistungsausbau oder zusätzliche Leute – es ist stets teurer geworden. Bei uns werden die Lohnkosten steigen, schon nur als finanzieller Ausgleich zur grossen Belastung. Das wird sich auf die Fallkosten auswirken, und dann wiederum bei den Versicherungen den Preis nach oben treiben. Es wird sowieso eine Erhöhung der Gesundheitskosten geben.
 
Unabhängig davon, ob der Gegenvorschlag oder die Pflegeinitiative angenommen wird?
Ja. Doch beim Gegenvorschlag stehen die Kantone dahinter. Bei der Pflegeinitiative dagegen würde man im politischen Prozess wieder bei Null anfangen müssen. Die Politik wollte die Initiative nicht, als sie 2018 eingegeben worden ist. Man wird jetzt nicht einfach den Inhalt des Gegenvorschlags nehmen und in die Initiative rüberschieben. So funktioniert das in Bundesbern nicht.
 
Ist der Gegenvorschlag aus Ihrer Sicht die perfekte Lösung?
Das nicht, aber es ist ein hervorragender erster Schritt. Ich habe ein wenig Angst, dass aufgrund der Corona-Belastung ein paar Ja-Stimmen kommen, weil sich die Leute ihre Weste reinwaschen wollen.
 
Als Dankeschön an die Pflegenden?
Genau. Ich nenne dies «das erweiterte Klatschen via Stimmzettel». Ohne sich bewusst zu sein, was die Konsequenz ist – nämlich eine vierjährige Diskussion, während der wir die Zeit verlieren, die wir nicht mehr haben.
 
Warum äussern Sie sich eigentlich als einer von wenigen Ihrer Berufskollegen zur Abstimmung?
Ich stelle mich meinen Leuten und rede nichts schön, auch nicht in der eigenen Institution. Wenn wir uns weiterentwickeln wollen, müssen wir doch das, was wir denken, transparent auf den Tisch legen. Viele haben nicht verstanden, dass man nicht gegen die Pflege ist, nur weil man den Gegenvorschlag befürwortet. Ich hatte eine Phase, in der ich etwas enttäuscht war von meinen Kollegen. Ich weiss, dass sie gerne den Gegenvorschlag hätten, aber sie stehen nicht öffentlich dazu.
 
Info: Kristian Schneider engagiert sich als Vorstandsmitglied des Verbands Schweizer Spitäler und Kliniken H+ im Abstimmungskampf und macht sich für den indirekten Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative stark.

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