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Les Près-d'Orvin

Er ist der Erste und der Letzte auf der Loipe

Von wegen Pensionierung: Der 71-jährige Kurt Brunner steht zurzeit rund um die Uhr im Einsatz. Er präpariert in Les Près-d'Orvin die Loipen und bringt den Leuten das Langlaufen bei – hauptsächlich Frauen.

Kurt Brunner fährt seit Kurzem ein neues Pistenfahrzeug. «Das ‹fägt›.» Peter Samuel Jaggi
Aufgezeichnet: Hannah Frei
 
Wenn ich am frühen Morgen im Pistenfahrzeug durch die frisch verschneite, keusche Landschaft fahren darf, ist das für mich jeweils ein besonderer Moment. Etwa wenn man auf dem Chasseral seine Runden zieht und man den Sternenhimmel ganz für sich alleine hat. Nebst dem, dass die Stimmung einfach wunderbar ist, gibt es mir eine gewisse Art von Selbstbestätigung, wenn ich die Spuren ziehen kann.
 
Es ist eine grosse Verantwortung, für die hunderten von Menschen eine schöne und sichere Spur zu machen. Für mich ist es das Grösste, wenn die ersten Langläufer eintreffen und ich sehe, wie sehr sie es auf der Loipe geniessen. Manchmal so sehr, dass die eine oder der andere einen Juchzer von sich gibt. Das ist einfach nur schön. Dafür mach ich diesen Job. Aber auch deshalb, weil ich dem Langlaufsport in unserer Region etwas zurückgeben möchte.
Früher, als ich Leistungssport betrieben habe, machten die Verantwortlichen manchmal extra für mich Spuren, die nicht zum normalen Loipennetz gehörten, damit ich besser trainieren konnte. Aber bereits damals hatte es häufig einfach zu wenig Schnee. Wir gingen so weit, dass wir an den schattigen Stellen mit Besen den «Biecht», also den Raureif, zusammengewischt haben, um zumindest eine kurze Spur zu präparieren. Dadurch hatte ich einen Trainingsvorteil. Denn das hat wohl in der ganzen Schweiz kaum ein anderer gemacht.
 
Im Langlauf entwickelte ich mich zum Leistungssportler. Verrückte Dinge haben mich schon immer fasziniert, wie beispielsweise ein Iron Man, ein Gigathlon oder Worldloppet-Läufe. Damit angefangen habe ich erst spät, mit 30 Jahren. Damals, als mein Bauch plötzlich anfing zu wachsen. Ich sagte mir: Brunner, so kann es nicht weitergehen. So ging es los mit Triathlon, Duathlon und mit Läufen. Langlauf war im Winter ein idealer Ausgleich. Diese Sportart ist dafür natürlich extrem prädestiniert, besonders als Gegenstück zum Rennradfahren. Ich sagte immer: Ein guter Langläufer wird im Sommer geboren und ein guter Triathlet im Winter.
 
Ich hatte mir am Anfang der Langlaufsaison immer ein Ziel gesteckt, etwa den Engadin-Skimarathon. Ich versuchte, mich jedes Mal zu steigern, wollte am Anfang jedes Mal ein besseres Startfeld erreichen. Da die Langlaufsaison ja eher kurz ist, machte ich viele Rennen, jedes Wochenende zwei und auch mal eines unter der Woche am Abend.
 
Zu Spitzenzeiten trainierte ich 20 bis 25 Stunden pro Woche, besonders im Sommer. Da ging ich morgens vor der Arbeit rennen, über den Mittag im See schwimmen und abends mit dem Fahrrad um den See. Ich versuchte, das Training so gut wie möglich in den Alltag zu integrieren. Das hat aber nur funktioniert, weil meine Familie immer hinter mir gestanden ist und Rücksicht genommen hat.
 
Beim «Engadiner» war ich lange jeweils unter den besten 100. Zu meinen besten Zeiten habe ich im Langlauf zahlreiche Rennen gewonnen, war mehrfacher Schweizermeister und später dann auch Senioren-Weltmeister.
 
Was mich dazu antrieb? Ich wollte an meine eigene Leistungsgrenze stossen, erfahren, wie weit ich gehen kann. Mein Antrieb war der Ehrgeiz.
 
Seit meiner Pensionierung vor bald sechs Jahren bin ich Loipenchef und Langlauflehrer in Les Prés-d’Orvin. Ursprünglich lernte ich Elektromonteur. Aber schon in der Lehre entwickelte ich eine Vorliebe für die Telefonie. Das klingt heute ein bisschen schräg. Damals war die Telekommunikation jedoch ein grosses Thema. Viele Leute hatten noch kein Telefon. In diesem Bereich bildete ich mich weiter und durfte derjenige sein, der den Leuten das Telefon installierte. Ich war 49 Jahre im selben Betrieb, bei Fischer Electric, wie das Unternehmen in Orpund heute heisst. Wenn man das heute einem jungen Menschen sagt, denkt sich der: «Der ist doch nicht ganz ‹bachä›.»
 
Heute lebe ich in Biel und in Les Prés-d’Orvin. Das ist praktisch für meine Arbeit als Pistenfahrer. Denn ich muss am Ball bleiben. Es darf nicht sein, dass die Menschen am Morgen kommen und die Loipen nicht parat sind. Mit dem Wohnsitz hier oben bin ich flexibel, kann in der Nacht arbeiten, oder am frühen Morgen. Je nach Zustand der Loipen muss man gewisse Abschnitte ganz erneuern. Wenn es geschneit hat, braucht man schon zwei bis drei Tage, bis die 45 Kilometer Pisten Klassisch und Skating à jour sind. Bei feuchtem Schnee macht man die Loipe besser in der Nacht. So gibt es feste Spuren.
 
Langlaufkurse sind derzeit besonders bei Frauen sehr beliebt. Ich würde sagen, etwa 80 Prozent sind Frauen. Weshalb das so ist, kann ich mir nicht recht erklären. Letztes Jahr gab es einen extremen Boom. So etwas habe ich noch nie erlebt. Das war abartig. Die Saison war zwar relativ kurz, zirka sechs Wochen. Dafür gab es in dieser Zeit einen Kurs nach dem anderen. Die meisten Frauen sagten mir, sie hätten schon immer damit geliebäugelt. Corona habe nun den Ausschlag gegeben. Skifahren wollten sie in dieser Zeit nicht mehr, oder weniger. Zu eng sei es in den Gondeln, zu kompliziert mit den Massnahmen. Auf der Loipe ist das anders. Und Langlaufen ist deutlich günstiger als Skifahren.
 
Viele kommen auch nach Jahren noch regelmässig für ein Update in einen Kurs. Denn es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man falsche Bewegungen automatisiert. Das bringt man dann fast nicht mehr weg. Daher sind Kurse auch für Anfänger wichtig. Langlauf ist ein Sport, den man ohne Probleme bis ins hohe Alter ausüben kann.
 
Nun denkt man vielleicht, der hat ja nur ein paar Tage pro Woche etwas zu tun. Aber mit dem Ausstecken der Loipen beginnen wir schon im Herbst. Die 45 Kilometer muss man mit Polycarbonat-Stangen, Abschrankungen, Hinweistafeln und Plänen versehen.
 
Meine Frau macht auch Langlauf. Mit 60 Jahren habe ich mir auf die Fahne geschrieben: Wir wollen das Leben geniessen, und zwar gemeinsam. Das bedingt Vorbereitung. Es macht also durchaus Sinn, die Zeit des Pensionsalters nicht erst mit 65 zu planen. So haben ich und meine Frau uns schon früh Aktivitäten gesucht, die wir gemeinsam machen können: Langlaufen, Nordic Walking, Velofahren, Skifahren. Das können wir heute alles zusammen erleben. Dazu kommt die Betreuung unserer drei Enkelkinder, die uns sehr viel Freude bereitet.
 
Eine weitere Leidenschaft von mir ist der Wein. Wie das mit Leistungssport zusammenpasst? Das fragten mich früher so einige. Ich hatte in den 80er-Jahren ein Vorbild im Langlauf, es war Maurilio de Zolt mit dem Übernamen «Il Grillo». Er hatte die Gewohnheit, vor grossen Rennen immer Pasta zu essen und dazu Wein zu trinken. Ich machte es genau so – und es funktionierte auch bei mir. 1969 habe ich meinen ersten Wein selber abgefüllt. Heute bin ich in zwei Weinklubs und organisiere Degustationen sowie Weinreisen. Wie auf der Langlaufloipe möchte ich dabei den Leuten Freude vermitteln. Wenn man den Winzer oder das Weingut kennt, eine persönliche Beziehung aufgebaut hat, geniesst man den Wein ganz anders. Meine grosse Liebe ist unter anderem Schweizer Wein. Ich bin auch in einem kleinen Kochklub. Fünf Freunde, die einmal im Monat zusammen kochen. Die Gespräche, die wir dort haben, sind sehr wertvoll. Wir kennen uns schon lange, machten früher Sport zusammen. Heute kochen wir – und geniessen Wein.
 
Ich hoffe weiterhin auf tolle Wintertage, und freue mich, dass ich meine Aufgaben mit viel Elan und Freude auch in Zukunft machen kann, ganz nach dem Motto: Langläufer leben länger.
 

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