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Biel

Er kämpft dafür, dass der Abgewiesene arbeiten kann

Für den Bieler Ulrich Burri ist der asylsuchende Eritreer Gebremedhin* fast schon zum Enkel geworden. Dabei hätte der 22-Jährige längst in sein Herkunftsland zurückkehren sollen. Doch Burri gibt nicht auf.

Ulrich Burri hat den jungen Eritreer vor zirka drei Jahren im Haus pour Bienne kennengelernt. AImé Ehi
  • Dossier

Hannah Frei


Gebremedhin* wünscht sich nur eines: «Leben, wie ein normaler Mensch.» Arbeiten, eine eigene Wohnung oder ein eigenes Zimmer haben, unabhängig sein. Doch das darf der 22-jährige Eritreer in Biel nicht. Seit 2015 ist er in der Schweiz. Er spricht Deutsch – nicht fliessend, aber gut verständlich – und hat sich in der Region ein solides soziales Netz aufgebaut. Zwei Jahre lang hat er in der Schweiz die Schule besucht, erhielt gute Zeugnisse und Empfehlungen der Lehrpersonen. Doch eigentlich müsste er längst zurück in seinem Herkunftsland Eritrea sein: 2016 wurde sein Asylgesuch zum ersten Mal abgelehnt.


Der Grund für die Ablehnung: Unglaubhaftigkeit. Bei der Schilderung seiner Flucht habe er gewisse Details nicht immer gleich erzählt. Auch habe er seine Flucht zu monoton beschrieben, heisst es in der Begründung weiter. Dass er trotzdem noch hier ist, hat er unter anderem dem Bieler Ulrich Burri zu verdanken. Der pensionierte Ingenieur gab sich mit dem Entscheid nicht zufrieden. Er intervenierte, schrieb der damaligen Justizministerin Simonetta Sommaruga (SP) und dem Staatssekretariat für Migration einen Brief und stellte ein zweites Asylgesuch. Gebremedhin erhielt den Status N erneut. Doch auch das zweite Gesuch wurde abgelehnt. Burri ging bis vor Bundesverwaltungsgericht, schöpfte den nationalen Rechtsweg bis ins Letzte aus – und scheiterte auch dort. Doch Burri will nicht aufgeben. Er kämpft auch heute noch dafür, dass Gebremedhin arbeiten kann.


Illegal, aber geduldet
Gebremedhin möchte seinen Namen nicht öffentlich bekannt geben. Er fürchtet, dass er etwas Falsches sagt, das im Asylverfahren gegen ihn verwendet werden könnte. «Obwohl, viel schlimmer, als es jetzt ist, kann es für mich nicht werden», sagt er. Seine Geschichte wurde schon zigfach erzählt, jedoch immer mit anderen Protagonisten. Gemäss den aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 2018 des Staatssekretariats für Migration ist er einer von zirka 800 Eritreern in der Schweiz, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die Nothilfe beziehen (siehe Infobox). Die Behörden gehen davon aus, dass diese Personen gefahrlos zurück in ihr Herkunftsland gehen können, weshalb sie hier in der Schweiz keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben und für die ein Rückreisedatum festgelegt wird. Doch die meisten bleiben – und werden geduldet.


Ulrich Burri möchte, dass man die Geschichte dieser Eritreer nochmals erzählt. Man dürfe sie nicht vergessen, die jungen Menschen, die irgendwo im Asylsystem stecken geblieben sind, weder nach vorne noch zurückkönnen. Sie dürfen nicht arbeiten oder eine Ausbildung absolvieren. «Sie können nur abwarten und hoffen, dass sich an der Asylpolitik in der Schweiz bald etwas ändert», sagt Burri.


Kennengelernt haben sich Burri und Gebremedhin im Haus pour Bienne in der Bieler Innenstadt. Burri ist dort regelmässig als Tagesverantwortlicher im Einsatz. Es war vor zirka drei Jahren, als Gebremedhin wie so oft dort Tischfussball spielte. Burri versuchte, mit ihm und seinen Mitspielern ins Gespräch zu kommen. Zuerst habe der junge Eritreer gar nicht richtig zuhören wollen. «Ich habe mich auf das Spiel konzentriert», sagt Gebremedhin. Doch dann bot ihm Burri Hilfe an, fragte nach, was er ihnen bieten könne, um sie voranzubringen. «Ich sagte ihm, dass ich gerne als Koch arbeiten oder eine Ausbildung machen möchte», sagt Gebremedhin.


Burri hörte sich um und stiess auf eine Stellenausschreibung: Kochausbildung in einem Restaurant in der Region. Mit Burris Hilfe hat sich der junge Eritreer beworben, durfte eine Woche schnuppern gehen, erhielt einen Ausbildungsvertrag, beide Seiten unterzeichneten – doch antreten durfte er die Stelle nicht. Das Gesetz kannte Burri. Doch er hatte gehofft. Gebremedhin auch. Dass eine von Burris Interventionen Früchte tragen würde und Gebremedhins Asylentscheid doch noch anders bewertet werde. Vergebens. «Das war sehr schwierig für mich», sagt der junge Eritreer.


Hätte Gebremedhin die Ausbildung antreten können, würde er sie in diesem Sommer abschliessen. Doch stattdessen hat er in den vergangenen zweieinhalb Jahren einfach gewartet. Ausgeharrt. Gehofft. Und wurde enttäuscht. Was er seither im Alltag so mache? «Nichts.»


Gebremedhin setzt auf Sport
Obwohl, eines macht Gebremedhin doch, und zwar mit viel Ausdauer: Sport. Durch Ulrich Burri kam er mit verschiedenen Klubs in Kontakt. Heute geht er ins Fitnesstraining und ist aktiv in einem Laufklub in der Region. Die beiden haben auch einmal versucht, gemeinsam Sport zu machen, und waren drei Monate lang in einem Kurs, um die brasilianische Kampfkunst Capoeira zu erlernen. Aber für Burri war das langfristig nicht das Richtige. Für Gebremedhin auch nicht.
Gebremedhin ist Burri sehr dankbar. Wenn er eine Frage habe oder ein Dokument nicht verstehe, finde er bei Burri immer Antworten. «Herr Burri macht alles für mich», sagt er. «Herr Burri» sei auch nicht aufdringlich, aber immer da, wenn er ihn brauche. Und es gibt wohl sonst niemanden, der so gut über die Situation von Gebremedhin Bescheid weiss.


Für Burri gehört Gebremedhin  schon fast zur Familie. «Ich versuche, ihn so zu behandeln, als wäre ich sein Grossvater.» Er ist etwas enttäuscht darüber, dass er ihn nicht so oft besucht, wie er sich das wünschen würde. Aber das sei ja auch normal, da könne man als Grossvater nicht mehr erwarten.


Gebremedhin ging auch schon bei Burri essen. Aber nur einmal. Er isst nicht gerne bei anderen. Nicht aufgrund seiner Kultur – auch in Eritrea gelte es als unhöflich, wenn man eine Einladung zum Essen ablehne. Es sei einfach seine Eigenheit. Schon als Kind habe er nie bei anderen essen wollen, weshalb ihn sein Vater immer wieder bestrafte. Ob er sich vorstellen könnte, bei Burri zu wohnen? «Ich weiss nicht recht.» Gebremedhin überlegt einen Moment. «Ich denke nicht.» Lieber möchte er mit Gleichaltrigen zusammenleben, zum Beispiel mit seiner jüngeren Schwester. Sie lebt, genauso wie sein älterer Bruder, auch in der Region. Ihre Asylgesuche wurden angenommen. Sein Bruder hat eine eigene Wohnung und eine Festanstellung. Er kam in die Schweiz, bevor sich das Asylgesetz 2015 verschärfte. So hoffte damals auch Gebremedhin, dass ihn dasselbe Schicksal erwarte wie seinen Bruder. Doch dem war nicht so. Zwei Jahre lang hat Gebremedhin bei ihm gewohnt, bis die Behörden ihn in die Asylunterkunft schickten.


Am liebsten möchte er heute alleine wohnen. Es müsse keine grosse Wohnung sein. Einfach so, dass er sein eigenes Heim hat. Ein Ort, an dem er sich zurückziehen kann, den er so gestalten kann, wie er es möchte. In der Asylunterkunft in Bözingen kann er das nicht. Dort lebt er mit einem Zimmergenossen zusammen. Es würden immer wieder andere kommen. «Für junge Menschen wie mich geht das schon. Aber für Familien mit Kindern? Stellen Sie sich vor ..»


Was ist Gebremedhin nächstes Ziel? Er sieht keines. Es scheint, als hätte er die Hoffnung schon fast aufgegeben. Er weint. Nach Eritrea zurückkehren? Das will der 22-Jährige auf keinen Fall. Er geht davon aus, dass er dort direkt ins Gefängnis müsste. Er gehört zu den Wehrpflichtverweigerern. In der Schweiz könne man sich kaum vorstellen, unter welchen Umständen man in eritreischen Gefängnissen ausharren müsse. Folter sei an der Tagesordnung. Das würde niemand freiwillig in Kauf nehmen.


Hoffen auf Härtefallgesuch
Auch Burri ist nicht mehr so zuversichtlich, wie er es war, als er Gebremedhin vor rund drei Jahren kennenlernte. Doch ein Hoffnungsschimmer bleibt: ein Härtefallgesuch. Burri hofft, dass sich auf politischer Ebene bald etwas ändert und die Regelungen für die Härtefallgesuche gelockert werden. Zurzeit unterstützt er einen offenen Brief an die aktuelle Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP), in dem eine Lockerung der Beurteilungen von Härtefallgesuchen bei Eritreern und Tibetern – die sich in einer ähnlichen Situation befinden – gefordert wird. Zudem hofft er, dass die Möglichkeit zur legalen Unterbringung Abgewiesener breit zum Tragen kommt.


Wenn Gebremedhin irgendwann doch des Landes verwiesen würde, sei die Arbeit nicht umsonst gewesen. Davon ist Burri überzeugt. «Immerhin hätte ich ihm dann die Zeit hier ein wenig ertragbarer machen können», sagt er. Gebremedhin nickt.

*Name der Redaktion bekannt

 

Eritreer in der Schweiz
Gemäss dem Staatssekretariat für Migration (SEM) bezogen 2018 insgesamt 7315 Personen in der Schweiz Nothilfe. Sie erhalten maximal 12 Franken pro Tag, je nach Kanton, eine Unterkunft und medizinische Grundversorgung. Der grösste Anteil der Nothilfebeziehenden, deren Nationalität bekannt ist, sind Eritreer: 813 Personen, was 11 Prozent entspricht. Gemäss SEM war Eritrea in den letzten Jahren das bedeutendste Herkunftsland von Asylsuchenden, zwischen 2014 und 2018 wurden insgesamt 28267 Gesuche von Eritreerinnen und Eritreern eingereicht. Grundsätzlich ist die Anzahl Asylsuchende in den letzten Jahren massiv gesunken: 2019 waren es 14269 Personen, was dem tiefsten Wert seit dem Jahr 2007 entspricht. haf

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