Sie sind hier

Abo

Behinderung

Er vertraut auf die Augen von «Saphir»

Ein sehbehinderter junger Mann macht eine Lehre zum kaufmännischen Angestellten in der Bieler Stadtverwaltung. Sein treuer Führhund «Saphir» begleitet ihn durchs Leben. Portrait einer aussergewöhnlichen Verbindung.

Mathieu Gerber und sein Führhund Saphir bilden ein starkes Team. Während der Arbeitszeit wartet Saphir geduldig vor dem Büropult. Reto Probst

Pierre-Yves Theurillat/pl

Mathieu Gerber und sein Blindenführhund «Saphir» sind ein unzertrennliches Paar. Der 20-jährige Sehbehinderte macht derzeit eine Berufslehre zum kaufmännischen Angestellten in der Stadtverwaltung. Den Abschluss will er 2018 erreichen. Neben dem Lehrlingslohn erhält er Taggelder der Invalidenversicherung (IV).

Gerber leidet seit Kindheit an einem Schwund von Sehzellen auf der Netzhaut – der sogenannten Retinitis pigmentosa. Sein Gesichtsfeld ist stark eingeschränkt: Bei Tageslicht nimmt er die Umwelt wie durch eine enge Röhre wahr. Seine Sehkraft beträgt in diesem Bereich noch 60 Prozent. Aber sobald die Beleuchtung schwächer wird, erkennt Gerber nichts mehr. Deshalb meint er: «Die Nacht war für mich immer eine feindselige Umgebung, doch ich habe gelernt, mich anzupassen.»

Treffen mit «Schumi»

Trotz seiner Behinderung strahlt der junge Mann einen erfrischenden Lebensmut aus. Er verrät, welche Dinge ihn glücklich machen: «Ich habe meine Krankheit angenommen, wie sie ist, und ich geniesse die Begleitung von ‹Saphir›. Ebenso bereitet mir meine berufliche Entwicklung Freude.» Auch eine Begegnung mit Michael Schumacher, dem legendären Rennfahrer, behält er in bester Erinnerung. Er durfte sein Idol auf Vermittlung der Stiftung Sternschnuppe gemeinsam mit seiner Familie in Budapest besuchen. Gerber ist dankbar, dass er stets von allen Seiten unterstützt wurde, denn früher sei er von Selbstzweifeln geplagt gewesen: «Ich haderte damals mit meinem Schicksal und fragte mich, was wohl aus mir werden würde», so der heutige Lehrling.

«Immer mein Bestes gegeben»

Nach dem 9. Schuljahr trat Mathieu Gerber in die Abteilung Berufsbildung der Stiftung Ceras in Tavannes ein. Diese Organisation widmet sich der Begleitung von Lernenden mit IV-Unterstützung. Dort durfte er im Rahmen von verschiedenen Praktika unterschiedliche Berufsfelder wie Informatik, Elektronik oder Bibliothekswesen erkunden.

Schliesslich entschied er sich für eine Ausbildung zum Büroassistenten. Kurz vor Erlangung des Berufsattests absolvierte Gerber während dreieinhalb Monaten ein Praktikum bei der Bieler Stadtverwaltung. Er muss einen guten Eindruck hinterlassen haben, denn die Abteilung Erwachsenen- und Kindesschutz bot ihm daraufhin eine weiterführende Lehrstelle zum kaufmännischen Angestellten auf der Inkassoabteilung an. Er habe diesen Ausbildungsplatz 2015 aufgrund seines Abschlusses als Büroassistent und wegen der guten Leistungen während des Praktikums erhalten. «Ich habe immer mein Bestes gegeben», ist Gerber überzeugt.

Dereinst Buchhalter?

Heute geniesst der Behinderte keine besonderen Vorrechte gegenüber seinen Arbeitskollegen, und seine Leistung wird allseits geschätzt. «Trotzdem brauche ich manchmal etwas mehr Zeit», räumt der Auszubildende ein. Aber hier kommt ihm die moderne Technik zu Hilfe: Er benutzt auf seinem Bildschirm das für Sehbehinderte entwickeltes Vergrösserungsprogramm Zoomtext. Damit lassen sich Schriftgrösse und Bildkontrast auf seine Bedürfnisse anpassen.

Gerber wird seine aktuelle Berufslehre in zwei Jahren abschliessen. Aber auch mit diesem Meilenstein will sich der ehrgeizige junge Mann nicht zufriedengeben, wenn er sagt: «Wenn ich die Kraft und die Motivation habe, will ich mich zum Buchhalter oder im Marketing weiterbilden.»

Unzertrennlich

Die wichtigste Quelle von Mathieu Gerbers Lebensfreude ist sein Blindenführhund «Saphir», der ihn seit fünf Jahren begleitet. Die beiden sind unzertrennliche Freunde geworden. «Der Hund darf auch durch die Büros spazieren», so der Lehrling. Damit das Tandem auch in Zukunft gut harmoniert, richtet er einen Wunsch an das Publikum: «Trägt der Führhund sein Geschirr, soll man das Tier ignorieren. Niemals sollten Dritte den Hund ansprechen, ihn streicheln oder ihm gar zu essen geben.» Wer trotzdem mit dem Tier in Kontakt treten möchte, muss sich an den Hundehalter wenden, fordert Gerber.

Im Freien handelt der Hund stets mit Blick auf die Sicherheit eines Meisters. So macht er vor jedem Fussgängerstreifen halt, und wenn dieser mit einer Ampel ausgerüstet ist, weist er den Führer in die Richtung des Druckknopfes. Das Tier erkennt einen freien Platz auf Parkbänken oder in öffentlichen Verkehrsmitteln. Zudem nimmt es Türen war und weicht Vertiefungen auf dem Weg aus. «Er führt mich behutsam an Hindernisse, wie Aufzüge und Rolltreppen, die eine Gefahr darstellen könnten», sagt Gerber über seinen Vierbeiner, dessen ruhige Wesensart er schätze, obwohl er gelegentlich Flausen im Kopf habe, denn schliesslich brauche auch ein Tier Momente der Zerstreuung. Jedenfalls sei «Saphir» das «schönstes Geschenk» in seinem Leben». Immerhin war die Abgabe des Führhundes im Jahr 2011 an den damals Jugendlichen eine grosse Ausnahme, sagt der 20-Jährige. Die Fachstellen vertrauen die aufwändig ausgebildeten Tiere grundsätzlich nur sehbehinderten Personen ab dem 18. Lebensjahr an. Zudem müssen die Bewerber für einen Führhund hohe persönliche Anforderungen erfüllen.

Nicht an Abschied denken

Trotz aller Freude gab es im Leben der beiden auch unerfreuliche Begebenheiten. Als das ungleiche Team die Badi von Yverdon-les-Bains besuchen wollte, wurde ihm der Eintritt verwehrt: Hunde verboten! Aber die Behörden reagierten rasch auf die Beschwerde des Jugendlichen und richteten auf dem Gelände eigens einen Zwinger für Führhunde ein. Der Vorfall in Yverdon sei nicht der einzige, wo den beiden ein Eintritt verwehrt worden sei, so Gerber.

Der Tag wird kommen, wo «Saphir» in Pension gehen wird. Dazu meint der junge Mann: «Das Tier ist sozusagen meine zweite Hälfte, und es hat mir im Leben so viel geschenkt. Ich will heute nicht an einen Abschied denken.»

* * * * * * * * * *

Kein Sonderfall

  • Die Anstellung von Mathieu Gerber als «vollwertiger Auszubildender» in der Stadtverwaltung ist kein Sonderfall, denn das städtische Personalreglement sieht die berufliche Förderung der Integration von körperlich und psychisch behinderten Personen ausdrücklich vor. «Allerdings sind keine Quoten vorgeschrieben, aber in der Planung werden Stellenprozente für Festangestellte, Praktikanten und Auszubildende berücksichtigt», präzisiert die städtische Personalverantwortliche Nathalie Léchot.
  • Die Abteilung Soziales stellt jedes Jahr eine bis zwei betroffene Personen ein. pyt/pl

Nachrichten zu Biel »