Sie sind hier

Abo

Vögel

«Es braucht eine kleine Revolution»

In den vergangenen 15 Jahren sind die Vogelbestände in Landwirtschaftsgebieten um ein Drittel gesunken. Ein Bieler Ornithologe erklärt, warum.

Symbolbild: Pixabay

Wir könnten den Frühling wohl bald ohne den Gesang der Vögel erleben. Das ist keine Fiktion. Dieses düstere Szenarium geht aus der neuesten Studie des französischen Forschungsinstituts CNRS und des nationalen Museums für Naturkunde hervor. Das Ergebnis dieser Erhebung ist erschreckend: In den vergangenen 15 Jahren ist in Landwirtschaftsgebieten ein Drittel des Vogelbestandes verschwunden. Und diese besorgniserregende Entwicklung nimmt seit 2008-2009 laufend zu, stellen die Forscher fest. 

Philippe Grosvernier, promovierter Biologe und Vizepräsident des Bieler ornithologischen Zentrums Cepob, zeigt sich über die dramatischen Zahlen nicht erstaunt: «Die Entwicklung ist für uns seit Langem Tatsache.» Der Ornithologe beobachtet die Natur seit Jahrzehnten und ist deshalb Zeuge des Vogelsterbens. Die Inventaraufnahmen würden heute ganz anders als noch vor 30 bis 40 Jahren verlaufen: «Damals war es schwierig, alle Vögel auf einem Feld zu zählen, denn sie traten in grossen Schwärmen auf. Heute hat man die wenigen Tiere schnell gezählt», sagt Grosvernier. Mit Wehmut erinnert er sich an die Zeit, wo Wiesen und Felder von Vogelgezwitscher erfüllt waren. Der Biologe bedauert, dass einige Vogelarten wie die Lerche sehr selten geworden sind. Grosvernier räumt allerdings ein, dass er seine Feststellungen nicht auf methodisch erhobene Zahlen stützen kann: «Ich berichte über das, was ich selbst erlebe.»


Braunkehlchen leiden
Dass Grosvernier mit seinen Beobachtungen recht hat, ist auch in der Schweiz wissenschaftlich erwiesen. «Die Tendenz ist bei uns dieselbe wie in Frankreich», bestätigt Michael Schaad, Sprecher der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Es seien zwar nicht die gleichen Vogelarten betroffen, aber die Gründe für das Vogelsterben seien mit jenen in unserem Nachbarland identisch. In gewissen Fällen sei der Rückgang in der Schweiz noch dramatischer als in Frankreich, weiss der Ornithologe aus Sempach: Die Vogelwarte veröffentlicht jährlich einen Index. Daraus geht hervor, dass der Vogelbestand im Landwirtschaftsraum während der vergangenen 25 Jahre um 40 Prozent gesunken ist. In derselben Zeit ist die Population der Feldlärchen und Braunkehlchen um die Hälfte zurückgegangen.


Keine Nahrung mehr
Genaue Zahlen für die Region Biel und den Berner Jura sind nicht verfügbar. Dennoch weiss Michael Schaad: «Die Lage ist besorgniserregend, besonders in mittleren Höhenlagen.» Der Biologe erkennt im Einsatz von Steinfräsen auf den Juraweiden eine grosse Gefahr für den Artenreichtum. Diese Geräte zertrümmern hervorstehende Felsen und Feldsteine. Dabei wird auch der Boden aufgebrochen, sodass am Ende ebenes Weideland entsteht.

Durch diese Bodenbearbeitung werden die natürlichen Kleinlebensräume zerstört, in denen Vögel nisten und sich von den dort lebenden Insekten ernähren. «Durch die Einsaat von Kunstwiesen kann zwei bis drei Mal im Jahr gemäht werden. Da bleibt den Vögeln keine Zeit, ihre Jungen aufzuziehen», so Schaad. Die intensive Nutzung der Böden und der Einsatz von Kunstdünger beeinträchtigen die Lebensräume der Pflanzen- und Vogelarten massiv.


«Man fühlt sich ohnmächtig»
Angesichts dieser Entwicklung fällt es Philippe Grosvernier schwer, seinen Fatalismus zu verbergen: «Es müsste ein grundsätzliches Umdenken in der landwirtschaftlichen Praxis stattfinden. Unsere Kulturlandschaft verödet, und in Brüssel wird seit fünf Jahren über ein Verbot von Glyphosat diskutiert. Als Vorstand einer kleinen Naturschutzorganisation fühlt man sich ohnmächtig», so der Umweltbiologe. Für ihn ist die Entwicklung zum Bio-Landbau und zu Permakulturen «nur ein Tropfen auf den heissen Stein». Vielmehr müsste die Menschheit ihre Lebensweise grundlegend umkrempeln. Aber ob dafür die Einsicht vorhanden ist, bezweifelt Grosvernier: «Ich bin nicht sehr optimistisch.»

Trotz allem hat der Naturwissenschaftler, der ein Beratungsunternehmen für den Schutz von Biotopen betreibt, den Mut nicht ganz verloren. Dabei baut er ausgerechnet auf die Kraft jener Natur, die in den vergangenen Jahren so viel Schaden genommen hat: «Wenn wir der Natur eine Chance geben, erobert sie sich ihren Raum zurück.» Er sei immer wieder erstaunt, wie rasch sich ein Lebensraum aus eigener Kraft erholen könne, sagt Grosvernier. Er ist überzeugt, dass die Lösungen auf dem Tisch liegen, aber er zweifelt am politischen Willen zur Durchsetzung der notwendigen Massnahmen. Zu mächtig seien die politischen und wirtschaftlichen Interessen.

Dennoch zeigt sich Grosvernier versöhnlich: «Für die Veränderung bräuchte es eine kleine Revolution, aber ich glaube, dass wir uns schon heute auf dem Weg dorthin befinden.» Julien Baumann/pl

*************************************


Biomasse der fliegenden Insekten: 70 Prozent weniger

Am 20. März wurden in der Zeitung «Le Monde» die Ergebnisse einer Studie von zwei unabhängigen staatlichen Forschungsorganisationen veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass die Vogelbestände in den Landwirtschaftsgebieten Frankreichs in den vergangenen 15 Jahren um ein Drittel gesunken sind. Zudem wird festgestellt, dass sich das Vogelsterben beschleunigt. Auch die Schweiz ist von dieser Entwicklung nicht ausgenommen. Die Schweizer Vogelwarte Sempach beobachtet bei gewissen Vogelarten im Landwirtschaftsraum einen Rückgang von 40 Prozent in den vergangenen 25 Jahren. Diese Zahlen betreffen nicht nur die Vogelwelt: Eine im vergangenen Herbst veröffentlichte Studie aus Deutschland deckt auf, dass die Biomasse der fliegenden Insekten in den letzten 30 Jahren um ganze 70 Prozent abgenommen hat.

Im März dieses Jahres fand in Kolumbien der Weltkongress über Biodiversität statt. Mehr als 500 Experten warnten vor dem globalen Verlust des Artenreichtums. Besonders dramatisch ist die Abnahme der Fischbestände. In den europäischen und asiatischen Gewässern ist die Population seit 2008 um 71 Prozent zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum sind 60 Prozent der Amphibien verschwunden.
2016 stellte das Schweizer Wasserforschungsinstitut Eawag fest, dass in den Schweizer Seen ein Viertel der angestammten Fischarten ausgestorben sind.
Die aktuelle Forschung auf dem Gebiet der Biodiversität kommt zum gleichen Schluss: Die Hauptursachen für das Massensterben sind die intensive Landwirtschaft mit Ackerbau und Tierzucht, die Abholzung der Wälder, der Klimawandel sowie die Verwendung von Pestiziden und anderen schädlichen Chemikalien. jbl/pl

Stichwörter: Vogel, Region, Natur, Nahrung

Nachrichten zu Biel »